Serumtherapie

Serumtherapie

Serumtherapie (Blutserumtherapie), die Übertragung von fremdem (tierischem oder menschlichem) Blutserum (Blutwasser) in den Organismus, um mittels darin enthaltener Schutzstoffe Widerstandsfähigkeit (Immunität) gegen Giftwirkungen, insbes. gegen die Wirkungen krankmachender Bakterien, also gegen Infektionskrankheiten, zu erzielen. Die erworbene, d. h. der betreffenden Tierart (bez. dem Menschen) nicht angeborne Immunität gegen ein bestimmtes Gift kann auf zweierlei Art zustande kommen; einmal als aktive (isopathische) Immunität, wenn dem Körper durch natürliche oder künstliche (dann vorsichtig abgestufte) Einverleibung giftiger Stoffe ein Kampf gegen die eingedrungene Schädlichkeit aufgezwungen wird, in dessen Verlauf er Gegengifte bildet, die oft sehr lange und sicher wirksam bleiben. Diesem Verfahren, das Unannehmlichkeiten und Gefahren mit sich bringt und namentlich wegen der meist raschen Entwickelung schon begonnener Krankheiten zu langsam wirkt, tritt das wertvolle passive (antitoxische) Immunisierungsverfahren der S. an die Seite, wobei die im andern Körper bereits (durch aktive Immunisierung, gegen dieselbe Krankheit) fertiggestellten Gegengifte (Antitoxine) sofort zur Wirkung kommen, allerdings auch bald wieder durch Ausscheidung unwirksam werden. Vgl. Immunität.

Da das antitoxische Serum die Aufgabe hat, gegenüber der stärksten Infektion ausreichenden Schutz zu verleihen, und da die Infektionsstärke im einzelnen Fall nicht meßbar ist, so sucht man eine unter allen Umständen genügende Antitoxinmenge zu übertragen. Man bedarf also hochwertiger Sera, die in kleiner Quantität viel Antitoxin enthalten, und sucht den Immunisierungswert der Sera zahlenmäßig festzustellen. Das hierbei übliche Verfahren (Ehrlich, Kossel und Wassermann) ist folgendes: von einem Gift wird die zehnfache Menge der kleinsten tödlichen Gabe mit dem zu untersuchenden Serum in verschiedenen Verhältnissen gemischt, die Mischung dann Meerschweinchen von ungefähr 250 g Gewicht unter die Haut gespritzt. Die hierbei unwirksam bleibende Mischung ermöglicht die Feststellung des Immunisierungswertes. Als Ausgangspunkt ist ein »Normalgift« erforderlich; als solches gilt eine Giftlösung, von der 0,01 ccm genügt, um binnen 5 Tagen ein Meerschweinchen von 250 g zu töten. Vom Normaldiphtheriegist enthält 1 ccm die kleinste tödliche Gabe für 100 Meerschweinchen von 250 g. Solche zur Wertbestimmung dienende Normalgifte werden jetzt in den betreffenden Instituten in fester, sehr haltbarer Form hergestellt und aufbewahrt. Vom »Normalserum« oder »Normalantitoxin« für Diphtherie hebt 0,1 ccm die Wirkung von 1 ccm Normalgift völlig auf; 1 ccm dieses Serums enthält eine Immunisierungseinheit. Ein zehnmal stärkeres Serum heißt zehnfaches Serum, von 500fachem Normalserum würden 0,0002 ccm hinreichen, um 1 ccm Normalgift zu neutralisieren. Die Wertbestimmung der Sera, ihr Freisein von schädlichen Stoffen, namentlich von Bakterien, ihr vorgeschriebener Gehalt an konservierenden antiseptischen Stoffen (Karbolsäure) obliegt im Deutschen Reich einer staatlichen Serumprüfungsanstalt, die mit dem königlich preußischen Institut für experimentelle Therapie in Frankfurt a. M. verbunden ist. Von jeder Serummenge gleicher Herkunft werden Kontrollproben zurückbehalten, die zeitweise auf Wirksamkeit und Reinheit untersucht werden; bei Veränderung werden alle die gleiche Operationsnummer tragenden Serumportionen aus dem Verkehr zurückgezogen.

Zur Serumgewinnung dienen vor allem Pferde. Umz. B. Diphtherieheilserum herzustellen, versetzt man Kulturen von Diphtheriebazillen mit Jodtrichlorid in verschiedener Konzentration und läßt diesen Zusatz, der die Wirksamkeit der Bazillen abschwächt, zwei Tage bis vier Wochen auf die Kulturen einwirken. Diese sehr verschieden starken Mischungen werden nun dem Pferd in steigender Menge unter die Haut gespritzt, wonach Fieber und lokale Entzündung eintritt; die neue stärkere Einspritzung erfolgt erst nach Zurücktreten dieser Reaktion. Wenn diese Behandlung einen hinreichend hohen Immunisierungswert des Blutes erzeugt hat, ist es leicht, dem Pferd größere Blutmengen zu entnehmen und daraus klares Serum zu gewinnen.

Das wichtigste, in der Praxis bewährteste Heilserum ist das Diphtherieheilserum, das 1890 zuerst von Behring (und Kitasato) hergestellt wurde und den Ausgangspunkt der gesamten S. darstellt, um deren Entwickelung sich namentlich Behring und Ehrlich verdient gemacht haben. Das Diphtherieheilserum wirkt, streng genommen, nur gegen die echte, durch die von Löffler entdeckten Bazillen verursachte Diphtherie; immerhin kann auch bei dem Fehlen solcher nahen Verwandtschaft der vorhandenen Bazillen mit den Löfflerschen eine Wirksamkeit des Serums ermöglichen. Möglichst frühzeitige Anwendung des Serums ist notwendig, auch müssen bei schwererer Erkrankung sehr große Mengen von Immunisierungseinheiten eingespritzt werden, indem man hochwertiges Serum benutzt. Es werden z. B. bei Kindern unter zehn Jahren 600, bei ältern Kindern 1000 Immunisierungseinheiten (1,5–3 ccm Flüssigkeit) am ersten bis zweiten Erkrankungstag eingespritzt, bei Erwachsenen und bei schweren Fällen sogar 2000–3000 Einheiten. Die Einspritzung, die wenig schmerzhaft ist, geschieht unter die Haut am Bauch oder Oberschenkel. Zur Immunisierung gefährdeter, aber noch nicht kranker Individuen wird eine kleinere Menge (150–200 Einheiten) eingespritzt. Die Immunität bleibt nur ca. 14 Tage wirksam, da das Antitoxin allmählich durch die Nieren ausgeschieden wird. Über die Wirkungen und Erfolge dieses Serums s. Diphtherie, S. 35. Diphtherieheilserum wird in Deutschland in verschiedenen Fabriken (Farbwerke in Höchst a. M. und Chemische Fabrik auf Aktien vorm. Schering, Berlin) hergestellt, stets aber in Frankfurt a. M. geprüft.

Im Gegensatz zum Diphtherieheilserum wirkt das Heilserum gegen Starrkrampf (Tetanus, Behring) hauptsächlich vorbeugend gegen Ausbildung der Krankheit, während sein Wert als Heilmittel nach Ausbruch des Starrkrampfes noch zweifelhaft ist. Man sollte daher alle Wunden, die mit Erde, Staub, Dünger verunreinigt sind und besonders leicht mit Tetanus infiziert werden, sofort prophylaktisch mit Starrkrampfserum behandeln. Ist die Krankheit schon ausgebrochen, so führen auch außerordentlich große Antitoxinmengen meist nicht zur Heilung, da das Gift mit der nervösen Substanz des Gehirns und Rückenmarks in eine feste, durch Antitoxin nicht zu beeinflussende Verbindung tritt. Mit einem Serum, das mittels Pestbazillen hergestellt wurde, hat Yersin bei Pest eine freilich nur 10–14 Tage dauernde Unempfänglichkeit gegen Pest erzeugt. Über Heil erfolge verlauten sehr widersprechende, vorwiegend ungünstige Berichte.

Gegen Streptokokkeninfektionen haben Marmoreck u. a. ein Serum darzustellen versucht; doch stößt man auf Schwierigkeiten, weil es viele verschiedene Streptokokkenstämme gibt, deren jeder nur Immunität und Schutzserum gegen den gleichen Stamm verleiht. Die Vorbehandlung der Pferde mit vielen verschiedenen Stämmen, wodurch sogen. polyvalentes Serum erzielt wird, hat sichere Resultate noch nicht erreicht. Da die Streptokokkeninfektion beim Menschen, wie die Neigung zu wiederholter Erkrankung an Rotlauf zeigt, keine Immunität zu erzeugen scheint. sind die Aussichten auf ein Heilserum gegen Streptokokken nicht günstig. Auch gegen Staphylokokken sind bisher nur unvollkommene Präparate gewonnen worden. Dagegen gelang es Calmette, ein wirksames Serum gegen Schlangengift herzustellen, von dem aber sehr große Mengen zur Rettung gebissener Menschen nötig zu sein scheinen. Die Bemühungen Behrings u. a., ein Tuberkuloseheilserum herzustellen, sind noch nicht von Erfolg gekrönt worden. Zwar gelang es Behring, Rinder zu heilen und zu immunisieren (s. Schutzimpfung), aber der Heilwert des Serums solcher Tiere ist ein sehr geringer. Vielleicht ist es aussichtsvoll, in der Milch solcher Tiere (Kühe) erkrankten Menschen Heilstoffe zuzuführen. Andre Sera unterscheiden sich von den genannten dadurch, daß sie weniger antitoxisch als antibakteriell (baktericid) wirken, d. h. sie verursachen, in einen erkrankten Organismus eingeführt, keine Aufhebung der bakteriellen Giftwirkung, sondern eine Schädigung (Auflösung) der Bakterien selbst vermöge ihres Gehalts an Bakteriolysinen (s. Immunität, S. 774). Dies gilt z. B. von verschiedenen Choleraseren, deren Heilerfolge höchst zweifelhaft sind, so daß die aktive Immunisierung (s. Schutzimpfung) gegenüber der Cholera weit wertvoller ist. Auch gegen Typhus und Lungenentzündung sind die gewonnenen baktericiden Sera ungenügend, da bei diesen Krankheiten die Giftwirkungen der Bakterien so ausgeprägt sind, daß sie direkte Neutralisierung durch Antitoxine erfordern.

Die Veterinärmedizin macht von der S. den umfassendsten Gebrauch zu drei verschiedenen Zwecken: zur Heilung kranker Tiere, zum vorübergehenden Schutz gesunder in der Zeit besonderer Ansteckungsgefahr und drittens, um unter dem Schutz der durch Serum erzielten vorübergehenden (passiven) Immunität ohne Gefahr eine künstliche Ansteckung mit nachfolgendem dauernden Schutz herbeiführen zu können. Diese Kombination der S. mit Ansteckung hat die größten Erfolge aufzuweisen, gehört aber zur Schutzimpfung (s. d.). Zu Heilzwecken wird die S. namentlich bei Druse und Starrkrampf der Pferde benutzt. Bei der Druse, einer Streptokokkeninfektion, ist der Erfolg des (polyvalenten) Heilserums wechselnd, beim Starrkrampf ebenso unsicher wie beim Menschen. Vorbeugend wird das Druseserum wenig angewandt, dagegen empfiehlt sich in manchen Gegenden, wo der Starrkrampf häufig ist, die vorbeugende S. bei Pferden, z. B. vor Operationen. Ein Heilserum gegen Hundestaupe (von Piorkowski, Berlin) scheint Erfolge zu versprechen. Bei Rotlauf und Rinderpest sind Heilungen bereits erkrankter Tiere durch S. möglich, haben aber keine praktische Bedeutung neben der Schutzimpfung (s. d.). Im übrigen wird die reine S. lediglich vorbeugend bei noch gesunden Tieren angewendet zum Schutz gegen Ansteckungen, die nur in den ersten Lebenswochen oder nur während der Weidezeit drohen, oder beim Ausbruch einer Epidemie, die voraussichtlich bald wieder erlischt. So treten Kälberruhr nur in den ersten sechs Lebenstagen, Kälberpneumonie in den ersten drei Monaten auf, und die Kälber sind dagegen durch eine sofortige vorbeugende Serumeinspritzung wirksam zu schützen, die bei Ruhr nur deshalb öfters versagt, weil diese durch sehr verschiedene Bakterienstämme verursacht wird und das Serum daher sehr polyvalent wirken muß. Ebenso ist die Anwendung des polyvalenten Schweineseucheserums (und Septicidins) bei Ferkeln nützlich, weil diese in den ersten Lebensmonaten durch Schweineseuche-Ansteckung besonders gefährdet sind. Während der Weidezeit sind Rinder durch Rauschbrand und Zeckenkrankheit (s. Piroplasmosen) bedroht. Gegen letztere werden sie in Deutschland erfolgreich durch S. geschützt, indem ihnen Serum von Kälbern, die eine echte Ansteckung leicht überstehen, eingespritzt und so eine mehrere Monate dauernde Immunität gegen das Piroplasma erreicht wird (das Serum wird nur vom pathologischen Institut der Tierärztlichen Hochschule zu Berlin im Staatsauftrag geliefert). Auch bei Rauschbrand ist neuerdings eine Methode der S. eingeführt, doch ist hier eine ältere Schutzimpfung (s. d.) mehr verbreitet. Der vorübergehende Schutz durch S. beim Ausbruch einer Epidemie wurde zuerst bei der Brustseuche der Pferde versucht; der Erfolg war wechselnd, und die praktische Durchführung scheiterte an der Unmöglichkeit, die nötigen Mengen von Immunserum vorrätig zu halten oder beim Ausbruch der Seuche rasch genug herzustellen. Die Bemühungen Löfflers, eine S. gegen Maul- und Klauenseuche zu finden, haben, nachdem das zuerst hergestellte Seraphthin sich sogar als gefährlich erwiesen hatte, kein praktisch befriedigendes Ergebnis gehabt. Beim Ausbruch der Geflügelcholera, die schnell den ganzen Bestand hinrafft, empfiehlt sich dagegen die oft wirksame S. (Serum vom Institut Gans in Frankfurt a. M., Septicidin vom Seruminstitut in Landsberg a. W., Schutzserumgesellschaft Piorkowski-Berlin). Vgl. Schutzimpfung.


http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.

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