- Rinderpest
Rinderpest (Pestis bovina, Löserdürre, in alter Zeit Viehsterben), die verheerendste Seuche des Rindes, für die auch größere wilde Wiederkäuer, weniger die kleinen Hauswiederkäuer empfänglich sind. Die Nachrichten über verheerende Viehseuchen im Altertum und Mittelalter lassen sich noch nicht sicher, wenn auch teilweise mit Wahrscheinlichkeit, auf R. beziehen. Erst vom 16. Jahrh. an werden aus den Steppen des Ostens kommende Seuchenzüge als R. erkennbar. Das 18. Jahrh. brachte zwei furchtbare Verheerungen: die eine begann 1711, verbreitete sich von Polen aus über den ganzen Kontinent und bis England. Die andre brach 1740 herein. Eine dritte Epidemie entstand im Gefolge des Siebenjährigen Krieges. Es starben jedesmal Hunderttausende von Rindern, bis zu drei Viertel des Bestandes. Ebenso begleitete in den Befreiungskriegen die R. die Viehtransporte der Heere. Seitdem sing man an, staatliche Maßregeln zu ergreifen, um die inzwischen als Ursache erkannte Ansteckung zu verhindern, doch waren dieselben noch ungenügend. 1865 starben in England und Holland Hunderttausende von Rindern. 1870 trat die R., wieder im Gefolge der für die deutsche Armee zusammengebrachten Herden, ihren letzten Zug nach Westen an; seitdem ist sie in Europa nicht über die russische Grenze hinausgekommen. Dies ist der Erfolg der Gesetze zur Bekämpfung der R., die 1868 in Österreich und 1869 für den Norddeutschen Bund, letzteres seit 1872 mit Wirksamkeit für das Reich erlassen worden waren und die denkbar schärfsten, aber einzig wirksamen Maßregeln festsetzten, nämlich Tötung des gesamten Viehbestandes, in dem die Seuche ausgebrochen ist, Absperrung des ganzen Ortes durch Militär und Verhinderung auch des menschlichen Verkehrs aus dem Seuchenorte heraus etc. Zugleich wurde die Einfuhr von Rindern aus Rußland, wo die R. heute noch ständig herrscht, verboten und, sobald dort eine Ausbreitung der R. in den Grenzgebieten bekannt wurde, die diesseitige Grenze oft monatelang mit Militär besetzt (Rinderpestkommandos), um den Viehschmuggel zu verhüten. Seitdem ist Deutschland und seit 1883 auch Österreich-Ungarn frei geblieben. In den russischen Grenzgouvernements hat die R. auch abgenommen, so daß militärische Grenzsperren seit langem nicht mehr nötig wurden. Im Innern Rußlands aber herrscht die R. unvermindert, weil strenge Maßnahmen sich nicht durchführen lassen. Die Seuche fordert dort jedoch weniger Opfer. Überstehen der Seuche verleiht nämlich Immunität, die sich sogar in sofern zu vererben scheint, als die Nachzucht in leichterm Grade erkrankt, so daß schließlich das gesamte Vieh dort, wo die R. dauernd herrscht, eine gewisse Widerstandsfähigkeit erreicht. Von vornherein ist das Steppenvieh nicht widerstandsfähiger als das der Zuchtrassen, wie sich z. B. bei der ersten Rinderpestinvasion in Deutsch-Südwestafrika gezeigt hat, wo 90 Proz. des den Steppencharakter tragenden Hereroviehes zugrunde gegangen sind.
Die R. ist eine akute Seuche, deren Ansteckungsstoff nicht bekannt ist. Sie bricht 4–7 Tage nach der Ansteckung aus und führt nach 6–10 Tagen in der Regel zum Tode. Genesung erfolgt in 5–10 Proz. der Fälle (abgesehen von den in Rußland herrschenden, oben erklärten Umständen). Es zeigen sich neben den Zeichen schwerer Allgemeinerkrankung und hohem Fieber nervöse Anfälle, eiterige Katarrhe und Verschorfungen der Schleimhäute, blutige Abgänge, mit viel Galle gemischt, Husten, auch Hauterkrankung. Die ersten Fälle sind nur durch die Sektion klarzustellen, bei der sich schwere geschwürige Entzündungen im Labmagen und Dünndarm und charakteristische mächtige Ausdehnung und Füllung der Gallenblase bis zu 2 Lit. Inhalt (daher Gallenfieber,) zeigen. Die mächtige Ausbreitung, welche die R. in den 1890er Jahren in weiten afrikanischen Gebieten erreichte, wo sie namentlich auch durch angestecktes Wild verschleppt wurde, hat zu einer neuen Art ihrer Bekämpfung geführt, der Rinderpestimpfung, die in unkultivierten Ländern das einzige mögliche Mittel ist und in Afrika verhältnismäßig gute und dauernde Erfolge gehabt hat. Semmer in Dorpat hatte bereits die Schutzkraft des Blutserums der von R. genesenen Rinder entdeckt, und Robert Koch fand zu Kimberley in Afrika, daß die Galle der an R. erkrankten oder verendeten Rinder gesunde vor Ansteckung schützt. Darauf beruhen zwei Methoden, die Gallenimpfung und die Serumimpfung. Bei der Gallenimpfung werden jedem gefunden Rind je 8–15 (Kälbern 5) ccm Galle eines getöteten, an R. erkrankten Rindes unter die Haut gespritzt. Zehn Tage später tritt Immunität ein. die vier Monate dauert, jedoch aktive (langdauernde) Immunität wird, wenn zehn Tage später die Tiere mit je 1 ccm virulenten Rinderpestblutes (d. h. mit dem den natürlichen Ansteckungsstoff enthaltenden Blut eines rinderpestkranken Rindes) nachgeimpft werden. Die durch die Impfung selbst entstehenden Verluste betragen etwa 10 Proz. In derzeit unverseuchten Gebieten werden besondere Stationen errichtet, in denen Tiere zur Gewinnung von Schutzgalle rinderpestkrank gemacht werden; diese Stationen sind als Herde der R. streng abzusperren. Für die Serumimpfung werden gesalzene Rinder, d. h. solche, die natürliche oder (nach Gallenimpfung) künstliche Ansteckung überstanden haben und nun immun sind, immer von neuem (zwei Monate lang) mit steigenden Dosen von virulentem Rinderpestblut geimpft, wodurch ihr eignes Blutserum schließlich so reich an Schutzstoffen wird, daß die Einspritzung einer geringen Dosis desselben kranke Rinder heilt und gefunden eine vorübergehende (passive) Immunität verleiht, die ebenfalls, wie bei der Gallenimpfung, durch Nachimpfung oder gleichzeitige Impfung (Simultanimpfung) mit 1 ccm virulenten Blutes in dauernde (aktive) Immunität verwandelt werden kann. Beide Methoden haben ihre Nachteile, haben sich aber beide bewährt, lassen sich auch vorteilhaft kombinieren, indem bei plötzlichem Seuchenausbruch zunächst mit Galle geimpft wird, während gleichzeitig mit der Vorbereitung von Serumrindern begonnen und später zu der nicht bloß den Gesunden Schutz, sondern auch schon Angesteckten Heilung gewährenden Serumimpfung übergegangen wird. In Deutsch-Südwestafrika ist es gelungen, durch systematische Impfungen die R. vollständig zum Erlöschen zu bringen.
Die Verletzung der zur Abwehr der R. erlassenen Vieheinfuhrverbote ist durch das deutsche Reichsgesetz vom 21. Mai 1878 unter strenge Strafe gestellt. 1) Vorsätzliche Verletzung trifft Gefängnis von einem Monat bis zu 2 Jahren. 2) War die Absicht des Täters auf Erlangung eines Vermögensvorteils für sich oder einen andern oder auf Zufügung eines Schadens gerichtet, so tritt Zuchthaus bis zu 5 Jahren oder Gefängnis nicht unter 6 Monaten ein. 3) Bei fahrlässiger Übertretung ist auf Geldstrafe bis zu 600 Mk. oder Gefängnis bis zu 3 Monaten zu erkennen. 4) Ist infolge der Zuwiderhandlung Vieh von der Seuche ergriffen worden, so erhöht sich die Strafe im Falle 1) auf Gefängnis von 3 Monaten bis zu 5 Jahren; im Falle 2) auf Zuchthaus bis zu 10 Jahren oder Gefängnis nicht unter einem Jahre; im Falle 3) auf Geldstrafe bis zu 2000 Mk. oder Gefängnis bis zu einem Jahre.
http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.