- Schlaraffe
Schlaraffe (ältere Formen Slûraffe, Schlauraffe, zusammengesetzt aus mittelhochdeutsch slûr = Faulenzerei, und Affe), gedankenloser Müßiggänger, ist ein seit dem 15. Jahrh. häufig nachweisbares Schimpfwort. Im Anschluß hieran bezeichnet Schlaraffenland ein fingiertes Land lächerlicher Vollkommenheit, in welchem dem Menschen ohne jede geistige oder körperliche Anstrengung alle materiellen Güter und Genüsse zuteil werden. Das Märchen vom Schlaraffenland, das seine Analoga unter fast allen Nationen hat, ist nichts andres als eine Parodie auf die Vorstellung von den paradiesischen Zuständen der Urzeit. Den Beweis, daß die Volksphantasie in der Tat hier anknüpfte, liefern die Griechen. Dichter der altattischen Komödie (5. Jahrh. v. Chr.) geben eine ins Komische übertriebene Beschreibung von dem goldenen Zeitalter unter der Herrschaft des Kronos, die sich vielfach mit Zügen unsers Märchens berührt. Auch hier fließen Bäche mit Milch, Honig und Wein, Suppenströme führen gleich die Löffel mit sich, die Fische kommen ins Haus und braten sich selbst, gebratene Vögel und Backwerk fliegen den Leuten in den Mund. auf den Bäumen wachsen Bratwürste etc.; sogar das »Tischchen, deck' dich« fehlt nicht. Ähnliches erzählte man dann von dem Leben der Frommen nach dem Tode (vgl. Lukianos' Beschreibung der Insel der Seligen in den »Verae historiae«, II, 11 ff.) oder von fernen Ländern, besonders von Indien. Im Mittelalter war das Märchen bei den romanischen Völkern bereits vollständig entwickelt und einem eigens dazu erfundenen fabelhaften Lande zugewiesen, das lat. Cucania, ital. Cuccagna, franz. Coquaigne oder Cocagne etc. hieß, ein Name, der wahrscheinlich zum lat coquere (kochen) zu stellen ist. Besungen wurde dieses Land seit dem 13. Jahrh. in französischen, italienischen, englischen, niederländischen und spanischen Gedichten. Über die mit dem Land Cuccagna in engem Zusammenhang stehende neapolitanische Fastnachtsbelustigung gleichen Namens s. Cocagna. Von Frankreich her scheint sich das Märchen in Deutschland eingebürgert zu haben, wo sich die ersten Spuren kurz vor dem 16. Jahrh. finden, und während es seine Entstehung und bisherige Erhaltung nur der Freude am Komisch-Wunderbaren verdankte, gesellte sich hier die moralisierende Tendenz dazu, der Jugend zur Warnung und Ermahnung zu dienen. Bekannt ist der Schwank vom »Schlauraffenland« von Hans Sachs, weniger ein andrer Schwank von ihm: »Der Sturm des vollen Berges«, dessen Handlung ebenfalls im Schlauraffenland spielt. Für die große Beliebtheit des Gegenstandes sprechen zahlreiche Gedichte auf fliegenden Blättern des 16. und 17. Jahrh. und Anspielungen bei verschiedenen Schriftstellern. Unter den dramatischen Darstellungen des Schlaraffenlandes ist besonders die von Legrand (»Le roi de Cocagne«, 1718) hervorzuheben. Eine humoristischallegorische »Tabula Utopiae oder Schlauraffenland« veröffentlichte gegen Ende des 17. Jahrh. der österreichische General Schrebelin, die zu ihrer Zeit als eine ausgezeichnete Satire gegolten haben soll; vermutlich ist es dieselbe, die als komischer Anhang in den Homann-Hübnerschen Atlas aufgenommen worden ist. Vgl. Pöschel, Das Märchen vom Schlaraffenland (in den »Beiträgen zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur«, Bd. 5, Halle 1878).
http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.