Schön [1]

Schön [1]

Schön ist der wichtigste Begriff der Ästhetik und wird in dieser in zwiefachem, nämlich in einem engern und in einem weitern Sinne gebraucht: in dem letztern ist s. gleichbedeutend mit ästhetisch; unter dieses Schöne im weitern Sinne fallen also auch z. B. das Tragische, Erhabene, Satirische, Humoristische etc. (s. den Artikel »Ästhetik«). Im engern und ursprünglichen Sinn ist aber s. ein auszeichnendes Prädikat besonders wertvoller und anziehender Eindrücke der ästhetischen Wahrnehmung, solcher nämlich, die in dem Auffassenden das Gefühl ausgesprochener Befriedigung erwecken. Das Wort s. hängt etymologisch mit »schauen« zusammen: es ist das, was den Sinnen sich darbietet, dann das die Sinne Erfreuende, und hieraus entwickelt sich die Grundbedeutung des Wortes, die noch jetzt überall durchschimmert: s. ist das, was so ist, wie es sein soll. Diese etymologische Betrachtung zeigt bereits, daß das Schöne in der Anpassung der Eindrücke an unser Ich besteht, in der Harmonie, die sich zwischen ihnen und den ursprünglichen Eigenschaften unsrer Natur sowie den Forderungen, die wir an die Dinge heranbringen, geltend macht; eine Erklärung, die zugleich auch die historische Wandelbarkeit und die örtlichen Verschiedenheiten der Vorstellungen über s. und häßlich verständlich macht. Dieses Prinzip der Übereinstimmung des Gegenstandes mit unserm Ich läßt zugleich die Anwendbarkeit des Begriffes s. auf die verschiedensten Lebensgebiete, auf Erscheinungen der Natur wie des Geisteslebens, als einleuchtend erkennen. Schon die einfachen Sinnesempfindungen, Licht, Farbe, Ton, Duft, Wärme etc., können den Bedingungen unsers Ich besonders angepaßt sein und Elemente des Schönen enthalten. Aber in bedeutsamerer Form tritt das Schöne erst bei den zusammengesetzten Eindrücken hervor: bestimmte Anordnungen der Gesichts- und Gehörswahrnehmungen (Harmonie der Farben, Formen, Klänge und die rhythmische Folge der Tonvorstellungen) sind unsrer Natur wohlgefällig. Bei allen komplexern Eindrücken liegt aber der Grund der wohltuenden Gefühlserregung darin, daß sie den Bildern, die wir von ihnen in der Seele tragen, entsprechen, daß sich also z. B. ein Eichbaum oder ein menschliches Antlitz den Ideen, die wir uns von ihnen gebildet haben, oder die als Typen in unsrer Seele schlummern, wohl angepaßt erweisen. Bei mannigfaltig zusammengesetzten Wahrnehmungen, wie z. B. einer Waldlandschaft, wird sich der Totaleindruck des Schönen aus dem Wohlgefallen an dem Ganzen und vieler Einzelheiten vereinigen. Die hohe Befriedigung, die wir von einem solchen Anblick gewinnen können, wird sich dadurch erklären, daß wir die schaffenden Kräfte der Natur in normaler Weise, so, wie es uns richtig erscheint, sich auswirken und betätigen sehen, von innen heraus, frei und ungehemmt, daß also das, was die Natur geplant hat, restlos in die Erscheinung tritt. – Nach demselben Prinzip beurteilen wir auch das Schöne der innern Welt. Ein Denken, Fühlen, Wollen und Handeln ist s., wenn es gewissen Anschauungen, die unverlierbar in unsrer Seele wohnen, gemäß ist. Dabei kann das Schöne in vielen Fällen mit dem sittlich Guten zusammenfallen; aber der Maßstab der Beurteilung ist doch hier und dort ganz verschieden. Zunächst ist das Gebiet des Schönen viel weiter als das des Sittlichen: das sittliche Urteil erstreckt sich immer auf die Betätigung des Willens und dessen Motive; s. können aber auch viele Vorgänge unsers Vorstellungs- und Gefühlslebens sein, die ganz und gar jenseits von Gut und Böse verharren. Aber auch da, wo es sich um Willensbewegungen der menschlichen Seele handelt, also um Vorgänge, die Gegenstand sittlicher Beurteilung werden können, wird das ästhetische Urteil von einem ganz abweichenden Gesichtspunkt aus und daher auch vielfach in ganz anderm Sinn als das sittliche gefällt. Sittlich sind diejenigen Handlungen und diejenigen Motive von Handlungen, die sich mit dem Sittengesetz, mit den Normen der Sittlichkeit in Übereinstimmung befinden; über die Art und Weise, wie sich diese Handlungen aus der Seele des Menschen herausbilden, sagt das sittliche Urteil nichts aus. Das Urteil über s. und häßlich der Willensimpulse bezieht sich dagegen gerade auf die Art und Weise der Betätigung; s. ist dasjenige Handeln, das sich frei und ungehemmt entfaltet, das aus dem Urgrund der Seele mit innerer Notwendigkeit aufsteigt, das ganz der Natur des Menschen entspricht; freilich aber der Natur, von der uns ein typisches Bild in der Seele wohnt. Gerade an dieser Stelle zeigt sich die Wandelbarkeit des Schönheitsbegriffes, von der auch die ästhetischen Kundgebungen der Kulturvölker die deutlichsten Zeugnisse ablegt, ganz zu geschweigen von denen der Naturvölker. Bei diesem Maßstab des Urteils über das Schöne der innern Welt ist es zu verstehen, daß manche Forderungen der Sittlichkeit, z. B. einige, die das sexuelle Leben betreffen, mit den Forderungen des Schönen nicht zusammengehen; man denke etwa an Gretchen im »Faust«, der wir Schönheit der Seele im höchsten Grade zusprechen werden, während das bloß sittliche Urteil manches an ihr auszusetzen findet. Aber in den wesentlichen Zügen stimmen die Forderungen der Sittlichkeit und des Schönen überein, und die Künstler und Dichter aller Zeiten haben in der Ausdeutung solcher Willensregungen, die auch dem sittlichen Fortschritt dienten, ihre höchste Aufgabe gefunden. Nur ist die Forderung, daß das Schöne dem Sittlichen dienstbar gemacht werden solle, theoretisch unhaltbar und durch die besten Muster der Kunst aller Zeiten widerlegt. – Die Vermischung des engern und weitern Begriffes s., die in der modernen Ästhetik so überaus häufig hervortritt, erklärt sich nun in letzter Linie dadurch, daß wir in der Regel von den Werken der Künstler und Dichter selbst verlangen, sie sollen s. im engern Sinne des Wortes sein: es soll sich in dem Kunstgebilde, abgesehen von seinem Inhalt, das Schöne offenbaren, d.h. der Schaffende soll die Dinge der Welt an dem Ideal des Schönen abmessen, und er soll in seiner Schöpfung, in seiner Darstellung selbst eine Kraft an den Tag legen, der wir das Prädikat des Schönen beimessen können. Diese Forderung ist jedoch keine unverbrüchliche, und neben der Kunst, die überall dieses Ideal des Schönen erkennen läßt, steht eine solche, die das Charakteristische, die treue Wiedergabe des Wirklichen und Möglichen, in den Vordergrund stellt. Vgl. Stil.


http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.

Игры ⚽ Нужно сделать НИР?

Schlagen Sie auch in anderen Wörterbüchern nach:

  • Schon — Schön …   Wörterbuch der deutschen familiennamen

  • (schon) ab — (schon) ab …   Deutsch Wörterbuch

  • Schon — Schon, eine Partikel, welche in einer gedoppelten Gestalt üblich ist. I. Als ein Umstandswort, und zwar im ersten und nächsten Verstande, als ein Umstandswort der Zeit, denjenigen Umstand der Zeit zu bezeichnen, da eine Sache geschehen ist, oder… …   Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart

  • Schön — Schön, er, ste, adj. et adv. 1. * Im eigentlichsten Verstande, glänzend, hell, und in weiterer Bedeutung rein, sauber. Diese Bedeutung ist zwar gegenwärtig im Hochdeutschen veraltet, allein, es sind doch noch Spuren genug vorhanden, daß sie… …   Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart

  • Schön — ist der Name folgender Orte: Schön (Gemeinde Blindenmarkt), eine Rotte in Blindenmarkt in Niederösterreich Schön (Gemeinde Schwarzenbach), eine Rotte in Schwarzenbach in Niederösterreich Schön (Gemeinde Micheldorf), eine Rotte in Oberösterreich… …   Deutsch Wikipedia

  • schon — 1. Ist das Essen schon fertig? 2. Mirko ist erst fünf. Aber er kann schon lesen. 3. Karl ist schon über 60. Aber er ist noch sehr fit. 4. Mach schon, ich kann nicht länger warten. 5. Keine Sorge. Es wird schon klappen. 6. Kommst du mit spazieren? …   Deutsch-Test für Zuwanderer

  • schön — • schön I. Kleinschreibung: – die schöne Literatur; die schönen Künste; das schöne (weibliche) Geschlecht – eine schöne Bescherung (umgangssprachlich ironisch) – gib die schöne (Kindersprache für rechte) Hand! – am schönsten {{link}}K 74{{/link}} …   Die deutsche Rechtschreibung

  • schon — [Basiswortschatz (Rating 1 1500)] Auch: • bereits Bsp.: • Sind sie schon hier? • Ist er schon gekommen? • Wir haben schon überall gesucht. • Ich habe meine Hausaufgaben schon gemacht. • …   Deutsch Wörterbuch

  • schön — 1. Ich finde eure Wohnung sehr schön. 2. Es ist schön heute. 3. Wir wünschen Ihnen einen schönen Aufenthalt in Kiel. 4. Schöne Grüße von Herrn Meier. 5. Möchten Sie noch eine Tasse Kaffee? – Nein, danke schön. 6. Schön, dass du kommst. 7. Ich… …   Deutsch-Test für Zuwanderer

  • Schon — ist der Familienname folgender Personen: Hermann Schon (* 1928), deutscher Politiker (SPD), Mitglied des Landtages des Saarlandes Jenny Schon (* 1942), deutsche Schriftstellerin Neal Schon (* 1954), US amerikanischer Gitarrist Peter M. Schon… …   Deutsch Wikipedia

  • schön — Adj std. (8. Jh.), mhd. schœn(e), ahd. scōni, as. skōni Stammwort. Aus g. * skauni Adj. schön, anmutig , auch in gt. skauns, ae. scīne, afr. skēne. Verbaladjektiv zu schauen, also eigentlich ansehnlich . Abstraktum: Schönheit; Verben: schönen,… …   Etymologisches Wörterbuch der deutschen sprache

Share the article and excerpts

Direct link
Do a right-click on the link above
and select “Copy Link”