- Reichskanzler
Reichskanzler, Erzamt im ehemaligen Deutschen Reich; unter den ersten deutschen Königen war meist der Erzbischof von Salzburg Kanzler, seit Heinrich II. meist der von Mainz. Die Kanzlei für Italien entstand 962 und wurde von italienischen Bischöfen verwaltet, erst seit Konrad II. vom Erzbischof von Köln. Da somit zwei Erzbischöfe ein Kanzleramt hatten, kam für den dritten, den von Trier, seit Ende des 13. Jahrh. als leerer Titel die Bezeichnung Kanzler für Gallien und Burgund in Gebrauch. Irgendwelche Tätigkeit hatten diese Erzkanzler nicht, dafür war der vom König ernannte Kanzler da, seit Friedrich I. »Hofkanzler« genannt, meist ein hoher Geistlicher. Später bekleidete der Kurfürst von Mainz ständig allein als Kurerzkanzler dieses Erzamt. Dessen ständiger Vertreter am kaiserlichen Hof war der vom R. ernannte Reichsvizekanzler (Reichshofvizekanzler), der zugleich Mitglied des Reichshofrats und der eigentliche Reichsminister war. Im dermaligen Deutschen Reich hat der R., ebenso wie der frühere Bundeskanzler des Norddeutschen Bundes, eine Doppelstellung. (Vgl. Deutschland, S. 789.) Der R., der vom Kaiser ernannt wird, ist nämlich einerseits preußischer Bevollmächtigter zum Bundesrat, der den Preußen zukommen den Vorsitz in dieser Versammlung führt; anderseits ist er der alleinige verantwortliche Reichsminister. Der R. ist der Gehilfe des Kaisers, namentlich bei der Vertretung des Reiches auswärtigen Staaten gegenüber; er ist der Leiter der gesamten Reichsverwaltung und der Vorgesetzte aller Reichsbehörden (s. d.); er steht dem Kaiser bei der Überwachung der Ausführung der Reichsgesetze zur Seite; durch ihn werden die erforderlichen Vorlagen nach Maßgabe der Beschlüsse des Bundesrats im Namen des Kaisers an den Reichstag gebracht. Alle Anordnungen und Verfügungen des Kaisers bedürfen zu ihrer Gültigkeit der Gegenzeichnung des Reichskanzlers, der dadurch die Verantwortlichkeit übernimmt; dies gilt auch für die Verkündigung von Reichsgesetzen. Nicht berührt werden von dieser Vorschrift die rein militärischen Befehle, die der Kaiser in seiner Eigenschaft als Bundesfeldherr erteilt. Jene Verantwortlichkeit des Reichskanzlers ist übrigens vorwiegend eine politische; ein Verantwortlichkeitsgesetz fehlt; ein Anklagerecht des Reichstags besteht nicht. Wie aber die Machtstellung des Bundespräsidiums darauf beruht, daß es mit dem mächtigsten Staate verbunden ist, so ist auch die Übereinstimmung, wenn nicht sogar die Einheitlichkeit der ministeriellen Leitung des Deutschen Reiches und Preußens eine Bedingung der Stärke und des Einflusses der Reichsregierung. Rechtlich notwendig ist die derzeitige Vereinigung der Stellung des Reichskanzlers und des preußischen Ministerpräsidenten in Einer Person keineswegs, wohl aber politisch zweckmäßig, wenn nicht unentbehrlich. Durch Reichsgesetz vom 17. März 1878 ist bestimmt, daß für den gesamten Umfang der Geschäfte und Obliegenheiten des Reichskanzlers ein Generalstellvertreter (Reichsvizekanzler) allgemein ernannt werden kann. Auch können für diejenigen einzelnen Amtszweige, die sich in der eignen und unmittelbaren Verwaltung des Reiches befinden, die Vorstände der dem R. untergeordneten obersten Reichsbehörden mit der Stellvertretung des Kanzlers im ganzen Umfang oder in einzelnen Teilen ihres Geschäftskreises beauftragt werden. Doch kann der R. jede Amtshandlung auch während der Dauer einer Stellvertretung selbst vornehmen. Das Bureau, das den amtlichen Verkehr mit den Vorständen der einzelnen Reichsämter (s. Reichsbehörden) vermittelt, heißt Reichskanzlei. Der erste R. wir Bismarck (18. Jan. 1871 bis 20. März 1890), ihm folgte Caprivi (bis 29. Okt. 1894), diesem Fürst Hohenlohe (bis 17. Okt. 1900) und ihm Fürst von Bülow. Vgl. Rosenberg, Die staatsrechtliche Stellung des Reichskanzlers (Straßb. 1889). Der Titel R. kommt auch in andern Staaten vor (s. Kanzler).
http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.