Rückenmarksschwindsucht

Rückenmarksschwindsucht

Rückenmarksschwindsucht (Rückenmarksdarre, Rückendarre, Tabes dorsalis), die häufigste Krankheit des Rückenmarks, beruht anatomisch auf einem Schwunde der hintern Rückenmarksstränge und der hintern Nervenwurzeln. Die Entartung schreitet von unten nach oben fort und kann auch auf die Seiten- und Vorderstränge übergehen. Am stärksten ist sie am Lendenmark sichtbar. Immer ist auch die graue Substanz der Hinterhörner ergriffen. Auch an den peripheren Nervensträngen, besonders häufig am großen Hüftnerv (Ischiadicus), am Vagus, am Sehnerv finden sich Zeichen von Entartung. Der Schwund der genannten Teile beruht zunächst auf einer Atrophie der Nervenfasern, deren weiße Markscheiden langsam zerfallen, hierdurch entsteht die graue Farbe des erkrankten Gewebes. Durch nachfolgende Entwickelung von Bindegewebe entsteht eine zähe, narbige Masse. Die R. kommt häufiger beim männlichen Geschlecht als beim weiblichen vor, meistens im mittlern Lebensalter, öfter in den höhern Ständen und in der städtischen Bevölkerung als im Landvolk. Als häufigste Ursachen der R. wurden früher Erkältungen und Durchnässungen angesehen, doch läßt sich in der Mehrzahl der Fälle derartiges ebensowenig nachweisen, wie die gleichfalls als Ursachen beschuldigten körperlichen und geistigen Überanstrengungen, Verletzungen und ähnliches. Für die Ansicht, daß geschlechtliche Ausschweifungen R. herbeiführen können, fehlt jeder Beweis. Dagegen ist vorausgegangene Syphilis von größter Bedeutung für die Entwickelung der R. Zahlreiche Statistiken haben ergeben, daß ca. 60, ja bis über 90 Proz. von an R. Leidenden früher an Syphilis erkrankt waren. Die Art dieses Zusammenhanges ist freilich noch nicht klar; keinesfalls handelt es sich um eine Späterscheinung der Syphilis selbst, vielmehr dürfte es sich um eine allmähliche Abnutzung der genannten nervösen Systeme handeln, die durch die vorausgegangne Syphilis in ihrer Widerstandsfähigkeit geschädigt wurden. Die Zeit zwischen der Syphilis und dem Beginn der R. wechselt zwischen ca. 2 und 20 Jahren. Die R. beginnt langsam, fast unmerklich, mit Schmerzen meist in den Beinen, die blitzartig auftreten (lanzinierende Schmerzen) und oft für Rheumatismus gehalten werden. Häufig zeigt sich auch Kriebeln in den Fingerspitzen und ein eigentümliches, als »Gürtelgefühl« bezeichnetes Taubsein und Einschnürungsgefühl rings um den Rumpf. Auch neuralgische Gesichtsschmerzen und Migräne können Früherscheinungen der R. sein, ebenso Anfälle von Muskelsteifheit und starkes Ermüdungsgefühl. Ein wichtiges, objektiv sichtbares Anfangssymptom ist das von Westphal beobachtete Ausbleiben des Kniephänomens (s. d.). Ebenso bedeutungsvoll ist die reflektorische Pupillenstarre (s. d.). Seltener wird die R. angekündigt durch Augenmuskellähmungen, wodurch Schielen und Doppeltsehen eintritt, und durch Abnahme der Sehkraft infolge Atrophie des Sehnervs. Nach monate- bis jahrelanger Dauer dieses Anfangsstadiums treten im Krankheitsbild die sogen. ataktischen Störungen mehr hervor, indem der Kranke das Muskelgefühl und damit das richtige Bewußtsein über die jeweilige Lage seiner Glieder einbüßt. Daneben wird auch die richtige Abstufung der einzelnen Muskelbewegungen beeinträchtigt, so daß die Bewegungen einen schlendernden, ausfahrenden Charakter annehmen, namentlich an den Beinen, weniger an den Armen. Zu der Ataxie tritt eine Störung des Hautgefühls, so daß der Kranke die Empfindung des Pelzigseins hat, namentlich an den Beinen. Schließt der Kranke im Stehen die Augen, so tritt Schwanken des ganzen Körpers ein, da die genannten Störungen des Haut- und Muskelgefühls die Gleichgewichtsempfindung beeinträchtigen (Rombergsches Symptom). Auch die Entleerung der Harnblase wird schwieriger, der Mastdarm wird unempfindlich gegen die darin angehäuften Kotmassen, die Stuhlentleerung selbst ist erschwert. Allmählich wächst die Schwäche der schon befallenen Teile und nähert sich mehr und mehr der vollkommenen Lähmung, indem Schwäche und Lähmung sich auf weitere, bisher gesunde Teile ausbreiten (paralytisches Stadium). Vielfach kommt Behinderung der Augenbewegungen, Schwachsichtigkeit, Schielen, Doppeltsehen dazu. Jetzt geht auch die Ernährung des Körpers und das Allgemeinbefinden sehr zurück, der Kranke liegt sich am Kreuzbein, den Schenkelknorren etc. auf, auch andre Organe (besonders Lunge, Harnblase und Gelenke, Arthropathia tabescentium seu tabidorum) erkranken. Seltener sind Ernährungsstörungen der Knochen, die dabei eine abnorme Brüchigkeit aufweisen, Muskelatrophien und schwer heilende, runde Geschwüre an der Fußsohle. Unter den bei R. vorkommenden Störungen innerer Organe sind vor allem die »gastrischen Krisen« zu nennen, heftigste, auf nervösen Störungen beruhende krampfartige Anfälle von Magenschmerz. Auch »Darmkrisen« mit starkem Durchfall, Kehlkopfkrisen mit Stimmritzenkrampf und ähnliche anfallsweise Störungen im Gebiete der Nieren und der Geschlechtsorgane kommen vor. Die Heilungsaussichten sind ungünstig. Besserungen und Stillstände kommen allerdings häufig vor. Der Verlauf erstreckt sich über sehr verschiedene Zeiträume, über 2–3 Jahre, aber oft auch über 10 und 20 Jahre. Ein verhältnismäßig günstiger Verlauf scheint hauptsächlich durch eine vorsichtige, den Umständen angepaßte Lebensweise erreicht zu werden, wird aber auch durch Badekuren in Gastein, Rehme, Wildbad und ebenso durch die örtliche Anwendung der Elektrizität gefördert. Von dem Gebrauch innerer, medikamentöser Mittel ist wenig zu erwarten. Doch sind die zuweilen äußerst heftigen Schmerzen und die Schlaflosigkeit mit narkotischen Mitteln zu bekämpfen. Nur in einzelnen Fällen kann von einer antisyphilitischen Behandlung (Schmierkur mit Quecksilbersalbe) Gutes erwartet werden. Sehr wichtig ist strenge Vermeidung körperlicher und geistiger Anstrengung. Neuerdings ist in der Behandlung der R. die Übungstherapie mehr in den Vordergrund getreten, bei der durch geeignete Bewegungsübungen die Erhaltung noch vorhandener und die Neuerwerbung verloren gegangener körperlicher Fertigkeiten methodisch erstrebt wird. Vgl. Leyden, Tabes dorsualis (Wien 1882) und die Literaturangaben beim Artikel »Rückenmarkskrankheiten«.


http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.

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