Atomismus

Atomismus

Atomismus (vom griech. Atom, das »Unteilbare«), die in der modernen Physik und Chemie vorherrschende Auffassung der Körper, nach der dieselben aus voneinander getrennten (diskreten) Bestandteilen zusammengesetzt sind, die unzerstörbar, in ihren Beschaffenheiten unveränderlich und selbst einfach durch ihre verschiedene räumliche Anordnung und ihre Bewegungen alle sinnenfälligen Erscheinungen in der Körperwelt hervorbringen. Je nachdem man annimmt, daß die Elemente der Körper absolut einfach, d. h. schlechterdings in keiner Weise zusammengesetzt und also auch absolut unteilbar, oder daß sie nur relativ einfach sind, insofern keine physikalische oder chemische Kraft eine Zerlegung derselben, die an sich denkbar wäre, bewirken kann, hat man dieselben Atome (im engern Sinn) oder Korpuskeln (»Körperchen«) genannt, ein Sprachgebrauch, an dem jedoch nicht überall streng festgehalten wird. Die Begründer des A. sind die griechischen Philosophen Leukippos (s. d.) und Demokritos (s. d.) gewesen, denen sich im Altertum noch Epikuros (s. d.) anschloß. In der neuern Philosophie wurde derselbe von Gassendi (s. d.) aufgenommen und von Descartes (s. d.) und Hobbes (s. d.) weitergepflegt. Nachdem schon die letztgenannten versucht hatten, die Grundgedanken des A. mit den naturwissenschaftlichen Tatsachen in engere Verbindung zu bringen, ergriff dieselben zuletzt die Naturwissenschaft, um den A. zum Rang einer erklärenden Hypothese zu erheben. Wenn nun freilich auch die Erklärung der wahrnehmbaren Naturerscheinungen mit Hilfe der Atome anfänglich nur eine sehr rohe war, so ist doch der A. historisch schon dadurch sehr bedeutsam, daß er überhaupt dieses Problem stellte. In dieser Hinsicht ist ein wesentliches Moment, durch das er sich dem Denken empfiehlt, dies, daß er die Anwendung der mathematischen Deduktion in hohem Grade begünstigt, ja geradezu herausfordert. Während die qualitativen Verschiedenheiten der sinnlichen Erscheinungen dem mathematischen Denken ein unüberschreitbares Hindernis entgegenstellen, erlaubt der A., alles auf Größenbestimmungen zurückzuführen und dadurch den mathematischen Gesetzen unterzuordnen. Auch an Gegnern der atomistischen Anschauungen hat es jedoch in der Geschichte der Philosophie nicht gefehlt. So versuchte Kant dieselben ganz zu beseitigen und den Begriff einer stetig den Raum ausfüllenden Materie anderen Stelle zu setzen (Kontinuitätshypothese). Die Fehler seiner Nachfolger (Schelling, Hegel) haben jedoch diese Idee sehr bald in Mißkredit gebracht; in neuester Zeit ist indes von naturwissenschaftlicher Seite die bezeichnete Hypothese aufs neue aufgestellt worden (s. Materie). Dem Einfluß Kants dürfte aber wohl der Fortschritt im Gebiete der atomistischen Naturauffassung zum Teil mit zuzuschreiben sein, daß man gegenwärtig die Existenz von Atomen nicht mehr als etwas so ganz Selbstverständliches und absolut Sicheres betrachtet, sondern eben nur als das, was sie ist, eine (allerdings in den stärksten Bedürfnissen unsers Denkens wurzelnde) Hypothese, die uns den Zusammenhang der Erscheinungen verständlich machen soll (kritischer A. im Gegensatze zum dogmatischen). Der Philosophie stellt der A. noch nach andrer Richtung hin eine Aufgabe; werden nämlich die materiellen Atome als die letzten und wahren Elemente alles Seins gedacht, so fragt sich, wie das geistige Geschehen sich zu denselben verhält. Während der Materialismus (s. d.) mit Demokrit, der die Seele für einen seinen Stoff erklärte, dasselbe überhaupt leugnet, macht der Hylozoismus (s. d.) den Versuch, den Atomen außer ihren mechanischen Eigenschaften auch noch Empfindung als wesentliches Merkmal zuzuschreiben; andre (so Du Bois-Reymond) sehen in der Verknüpfung psychischer Erscheinungen mit den Bewegungen der Atome eine Tatsache, die für unser Denken ein für allemal unbegreiflich sei. Tiefer gehen Leibniz und Herbart, indem sie mit dem A. zwar eine ursprüngliche Vielheit einfacher Wesen als Grundlage der ganzen Wirklichkeit annehmen, diese aber als wesentlich geistige Einheiten (die Monaden Leibniz') oder wenigstens als unräumliche, immaterielle metaphysische Wesenheiten (die Realen Herbarts) definieren; in noch andrer Weise hat Lotze (s. d.) bei aller Anerkennung der Bedeutung der atomistischen Anschauungen für die Erklärung der materiellen Welt die Substanzialität des Geistigen festzuhalten gewußt, auf Grund der Voraussetzung, daß die Vielheit voneinander unabhängiger Elemente, die der A. und mit ihm die pluralistische Metaphysik annimmt, überhaupt nicht als die letzte Grundlage der Wirklichkeit gedacht werden kann. Die Atome sind ihm nur »Durchgangs- oder Knotenpunkte« in dem universellen Geschehen, ihre Selbständigkeit eine scheinbare. Ähnlich betrachtet auch E. v. Hartmann die Atome nur als »Irradiationspunkte« derjenigen (ihrem Wesen nach metaphysischen) Kraftwirkungen, welche die Erscheinung der Materie hervorbringen. Alle diese Forscher stimmen darin überein, daß sie die Atome zwar als ein Letztes für die naturwissenschaftliche Auffassung der materiellen Welt, nicht aber als die letzte Grundlage des Seins überhaupt gelten lassen. Über die verschiedenen Gestaltungen des Atombegriffs s. Materie. Vgl. Fechner, Über die physikalische und philosophische Atomenlehre (2. Aufl., Leipz. 1864); K. Laßwitz, Geschichte der Atomistik vom Mittelalter bis Newton (Hamb. 1890, 2 Bde.). Vgl. Mechanisch.

Naturwissenschaftliche Atomtheorie.

Die von der Naturwissenschaft ausgebildete Atomtheorie ist aus praktischen Erwägungen allgemein angenommen worden. Nur mit Hilfe dieser Theorie ist es bis jetzt gelungen, zahlreiche physikalische Verhältnisse von einem allgemeinen und höhern Gesichtspunkt aufzufassen und tiefer zu begründen. Die neuere Chemie aber beruht völlig auf der Lehre von den Atomen, die hier eine eigentümliche Ausbildung erfahren hat. Sie wurde 1804 von Dalton begründet, der gefunden hatte, daß, wenn sich zwei Körper in mehreren Verhältnissen miteinander verbinden, die Mengen des einen bei gleichen Mengen des andern in den verschiedenen Verbindungen stets in einem einfachen Verhältnis stehen (Gesetz der einfachen und multipeln Proportionen). Es verbinden sich z. B.

Tabelle

Ähnlich verbinden sich

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Nimmt man an, daß sich die chemischen Verbindungen durch Aneinanderlagerung von Atomen bilden, die ein bestimmtes, unveränderliches Gewicht besitzen und nicht weiter teilbar sind, so erklärt die atomistische Theorie in einfacher Weise die Konstanz der Verbindungs- oder Äquivalentgewichte (s. Äquivalent). Nach der Aufstellung der Atomtheorie durch Dalton, der merst mit dem Wort Atom einen bestimmten, klaren Begriff verband und die qualitative Verschiedenheit der Atome der verschiedenen Elemente annahm, wurde die vollkommene Ausnutzung derselben aber teils infolge der noch sehr mangelhaften Hilfsmittel, teils durch unklare Anschauungen noch auf lange Zeit verzögert. Dalton hatte schon gezeigt, wie man die relativen Gewichte der Atome bestimmen könne; aber man verwechselte später Atomgewicht und Äquivalent, und erst seit den Bemühungen von Laurent und Gerhardt sind diese Begriffe scharf voneinander getrennt worden. Von da an datiert der Aufschwung, den die moderne Chemie in unsern Tagen genommen hat. Durch mechanische Zerteilung einer Substanz erhält man stets meßbare, gleichartige Partikelchen (Mole), die noch alle Eigenschaften der betreffenden Substanz zeigen und aus kleinern Teilchen, den Molekülen, bestehen. Diese können nicht weiter in gleichartige Produkte zerlegt werden, das denkbar kleinste und nicht mehr meßbare Teilchen Wasser ist ein Molekül. Nun besteht aber Wasser aus Wasserstoff und Sauerstoff, und somit ist die weitere Teilbarkeit des Moleküls bewiesen. Ein Molekül Wasser besteht aus 2 Atomen Wasserstoff und 1 Atom Sauerstoff, und so ergibt sich, daß man unter Molekül die denkbar kleinste Menge eines zusammengesetzten Körpers und unter Atom die denkbar kleinste Menge eines chemisch einfachen Körpers, der in Verbindungen enthalten ist, zu verstehen hat.

Nach dem Avogadroschen Gesetz enthalten gleiche Volumen aller Gase eine gleiche Anzahl Moleküle. Nimmt man an, daß 2 Volumen Chlorwasserstoff, die aus 1 Volumen Chlor und 1 Volumen Wasserstoff entstehen, 1000 Moleküle Chlorwasserstoff enthalten, so enthält 1 Volumen davon 500 und mithin, nach dem Avogadroschen Gesetz, 1 Volumen Chlor ebenso wie 1 Volumen Wasserstoff gleichfalls je 500 Moleküle Chlor und 500 Moleküle Wasserstoff. Da nun aber jedes Molekül Chlorwasserstoff aus 1 Atom Chlor und 1 Atom Wasserstoff besteht, so müssen in den 2 Volumen Chlorwasserstoff 2000 Atome enthalten sein. 1 Volumen oder 500 Moleküle Chlor und 1 Volumen oder 500 Moleküle Wasserstoff haben also zur Bildung der 2 Volumen Chlorwasserstoff je 1000 Atome beigesteuert, und folglich besteht auch 1 Molekül Chlor aus 2 Atomen Chlor und ebenso 1 Molekül Wasserstoff aus 2 Atomen Wasserstoff. Die Moleküle der Elemente sind also wie die Moleküle der Verbindungen aus Atomen zusammengesetzt; während diese letztern Moleküle aber aus 2,3 und mehr verschiedenartigen Atomen bestehen, finden sich in den Molekülen der Elemente ganz allgemein 2 gleichartige Atome. Daraus ergibt sich nun eine schärfere Definition: Molekül ist sonach die kleinste Menge eines Elements oder einer chemischen Verbindung, die im freien Zustand auftritt oder an chemischen Prozessen teilnimmt, Atom aber die kleinste unteilbare Menge eines einfachen Stoffes, die in eine chemische Verbindung eintreten oder zur Bildung eines Moleküls beitragen kann. Aus diesen Verhältnissen erklärt sich die Erscheinung, daß Elemente im Moment der Abscheidung aus einer Verbindung (im Entstehungszustand) chemische Wirkungen hervorbringen können, die man sonst nicht beobachtet. So wirkt der Wasserstoff bekanntlich reduzierend, aber manche Körper werden nur dann durch ihn reduziert, wenn sie sich in derselben Flüssigkeit gelöst befinden, in der Wasserstoff entwickelt wird. Ein Teil des Wasserstoffs tritt dann gar nicht gasförmig auf, sondern wirkt im Moment, wo er frei wird, auf die reduzierbare Substanz. Diese gesteigerte Wirkung im Entstehungszustand erklärt sich durch die Annahme, daß im Wasserstoffgas je 2 Atome unter Aufwendung einer gewissen Kraft miteinander zu Molekülen verbunden sind, und daß, wenn die Atome des Moleküls in eine chemische Verbindung eintreten sollen, diese Kraft zunächst überwunden werden muß. In dem Moment dagegen, wo sich die Atome aus einer chemischen Verbindung lösen, also noch nicht zu Molekülen vereinigt sind, treten sie mit ihrer ganzen freien Affinität auf.

Wenn gleiche Volumen aller Gase eine gleiche Anzahl Moleküle enthalten, dann drücken die Volumgewichte der Gase zugleich das Verhältnis der Molekulargewichte der betreffenden Körper aus. Wenn sich die Volumgewichte von Wasserstoff, Stickstoff, Sauerstoff, Chlor wie 1:14:16:35,5 verhalten, so verhalten sich auch die Gewichte der Moleküle jener Körper wie diese Zahlen. Das Volumgewicht der Gase ist zugleich das Molekulargewicht der betreffenden Körper, und da ganz allgemein 1 Molekül einer gasförmigen Verbindung gleich 2 Volumen ist, so ist das Molekulargewicht diejenige Menge eines Körpers, die in Gasform den Raum von 2 Volumen Wasserstoff (Chlor etc.) einnimmt, und da 1 Molekül = 2 Atomen, so ist die Hälfte des Molekulargewichts das Atomgewicht. Merkwürdige Ausnahmen von der mciatomigen Struktur der Moleküle bilden Phosphor, Arsen, Quecksilber und Kadmium. Das Atomgewicht des Phosphors ist 31, aber das Volumgewicht des Phosphorgases ist 62, und mithin ist 1 Molekül Phosphor (2 Volumen) = 4 Atomen oder 124. Ebenso verhält sich Arsen, während bei Quecksilber und Kadmium 1 Molekül = 1 Atom ist. Man hatte bisher die Atomgewichte sehr allgemein auf Wasserstoff H – 1 bezogen; nach Vereinbarungen von 1898 bezieht man jetzt die Atomgewichte auf Sauerstoff O = 16, weil die Verbindungsgewichte der meisten Elemente aus den Sauerstoffverbindungen abgeleitet sind, und weil die Genauigkeit, mit der sich das Verhältnis der Verbindungsgewichte des Sauerstoffs zum Wasserstoff berechnen läßt, nicht sehr groß ist. Dazu kommt, daß die auf O = 16 bezogenen Atomgewichte der meisten häufiger vorkommenden Elemente sehr nahe an ganzen Zahlen liegen. Man bezeichnet jetzt diese Atomgewichte als internationale, die auf H = 1 bezogenen, die beim Unterricht einige Vorteile zu bieten scheinen, als didaktische. Die absolute Größe und das absolute Gewicht der Atome läßt sich bis jetzt nicht mit voller Schärfe bestimmen, indes ergeben verschiedene Methoden übereinstimmend, daß die Dimensionen der Atome sehr wahrscheinlich kleiner sind als 1/1,000,000 mm und größer als 1/20 dieser Länge. Nach Maxwell wiegen 435,000 Trillionen Wasserstoffatome 1 g, aber auch von den schwersten Atomen, denen des Urans, gehen immer noch mehr als 1800 Trillionen auf 1 g. Über gewisse Regelmäßigkeiten in den Atomgewichten s. Elemente. Vgl. Dalton, New system of chemical philosophy (Lond. 1802–27; deutsch, Berl. 1812–14, unvollständig); Stas, Untersuchungen über die Gesetze der chemischen Proportionen, über die Atomgewichte und ihre gegenseitigen Verhältnisse (deutsch, Leipz. 1867); Sebelien, Beiträge zur Geschichte der Atomgewichte (Braunschw. 1884); Loth. Meyer, Über die neuere Entwickelung der chemischen Atomlehre (Tübing. 1886); Roscoe und Harden, Die Entstehung der Daltonschen Atomtheorie (deutsch von Kahlbaum, Leipz. 1898).


http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.

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