- Carlyle
Carlyle (spr. karlāīl), Thomas, engl. Historiker, geb. 4. Dez. 1795 in Ecclefechan in der schottischen Grafschaft Dumfries als der Sohn eines Pachters, gest. 5. Febr. 1881 in London. Er bezog schon 1809 die Universität Edinburg und studierte Mathematik, Philosophie und alte Sprachen. 1814 verließ er Edinburg, gewann zuerst als Schullehrer, dann (seit 1818 wieder in Edinburg) durch literarische Lohnarbeiten seinen Unterhalt und konnte erst seit 1822, nachdem er eine reichlich bezahlte Stellung als Privatlehrer erhalten hatte, sich sorgloser eignen Studien widmen. Nachdem er sich 1826 mit Jane Welsh (geb. 14. Juli 1801) verheiratet hatte, lebte er seit 1828 auf dem seiner Frau gehörigen Pachtgut Craigenputtock bei Dumfries und seit 1834 in Chelsea bei London. Schon seit 1822 hatte er sich vornehmlich mit der neuern deutschen Literatur beschäftigt, und niemand hat mehr als C. dazu beigetragen, ihre Kenntnis den Engländern zu vermitteln. Im Zeitraum weniger Jahre brachte er eine Übersetzung von Goethes »Wilhelm Meister« (Edinb. 1825, 3 Bde.), eine Biographie Schillers (Lond. 1825) und eine Auswahl von Übersetzungen aus Goethe, Fouqué, Tieck, Musäus, Jean Paul, Hoffmann u. a. mit kritischen und biographischen Einleitungen u. d. T.: »German romances« (Edinb. 1827, 4 Bde.) sowie eine große Anzahl kleinerer Aufsätze über Werner, Novalis, den Briefwechsel Goethes mit Schiller, Heine, das Nibelungenlied etc., die später mit andern in der Sammlung seiner »Critical and miscellaneous essays« (neue Ausg. 1893, 8 Bde.) vereinigt wurden. Durch den »Meister« war C. zu Goethe in Beziehungen getreten; ein Briefwechsel zwischen beiden ward angeknüpft, Goethe-selbst leitete die 1830 in Frankfurt erschienene deutsche Übersetzung der Schiller-Biographie ein, und der englische Gelehrte blieb sein lebenlang ein begeisterter Verehrer des Weimarer Dichterfürsten. Die nächste größere Schrift Carlyles, zuerst in »Fraser's Magazine« (1833–34) veröffentlicht, führt den wunderlichen Titel: »Sartor resartus, or life and opinions of Herr Teufelsdroeckh« (deutsch von Th. Fischer, 2. Aufl., Leipz. 1903); offenbar unter dem Einfluß Jean Pauls entstanden, spiegelt sie z. T. seine eigne geistige Entwickelung wider, enthält aber auch eine scharfe Satire auf die gesellschaftlichen Zustände Englands. Größere Wirkung hatte das erste umfangreiche historische Werk Carlyles, seine Geschichte der französischen Revolution (»The French revolution, a history«, 1837, 3 Bde.; deutsch von Feddersen-Erman, 4. Aufl., Leipz. 1897, 3 Tle., und von Daufalik und Kwest, Halle 1898–99, 2 Bde.), die freilich, wieder 1839 erschienene Essay über den »Chartismus« (s.d.), in der Form vielfach barock, einen einseitigen Maßstab an die Betrachtung der Dinge legt. 1837–40 hielt C. in London mehrere Vortragszyklen, von denen eine Serie, die Vorträge über »Helden, Heldenverehrung und Heldentum in der Geschichte« (»On heroes, heroworship and the heroic in history«, 1846; deutsch von Neuberg, 3. Aufl., Berl. 1898, und von Bremer, Leipz. 1895), gedruckt wurde. Aus diesen Vorträgen erkennt man deutlich die damalige geschichtsphilosophische Anschauung Carlyles. Er stellt darin fünf Typen des Heldentums auf: den Propheten (Mohammed), dēn Dichter (Dante und Shakespeare), den Priester (Luther und Knox), den Schriftsteller (Johnson, Rousseau, Burns), den Herrscher (Cromwell und Napoleon), und aller Fortschritt in der Geschichte ist ihm durch die Wirksamkeit der gottbegnadeten Herren bedingt. Seine »Lectures in the history of literature« aus dem I. 1838 wurden 1892 veröffentlicht. 1845 erschien das bedeutendste historische Werk Carlyles, »Letters and speeches of Oliver Cromwell« (1845, 5 Bde.), das zum erstenmal die ganze Größe des puritanischen Staatsmannes kennen gelehrt hat. Minder hervorragend ist die Geschichte Friedrichs II. (»The history of Friedrich II., called Frederick the Great«. 1858–65, 6 Bde.; deutsch von Neuberg u. Althaus, Berl. 1858–69); die Wunderlichkeiten des Stils überwuchern hier beinahe die malerische Darstellung. Zu den besten in englischer Sprache geschriebenen Biographien gehört »The life of John Sterling« (1851; deutsch von A. Schmidt, Leipz. 1903); die letzten historischen Arbeiten, die C. veröffentlicht hat, sind Essays über die ältere Geschichte Norwegens und John Knox (»The early kings of Norway and an essay on the portraits of John Knox«, 1875). Inzwischen hatte C., der alle Zeit, unbekümmert um herrschende Strömungen und populäre Richtungen, rückhaltlos mit seiner Meinung hervortrat, sich wiederholt mit politischen Fragen beschäftigt. Sein Buch »The past and the present« (1843, deutsch von Th. Fischer, Leipz. 1903) und seine »Latterday-pamphlets« (1850) treten den herrschenden atomistischen Anschauungen in Nationalökonomie und Politik kühn u. nachdrücklich entgegen. 1867 bekämpfte er unter dem seltsamen Titel: »Shooting Niagara-and after?« die Agitation für demokratische Parlamentsreform; 1871 trat er in seinen »Letters on the war between Germany and France« gegen die in England herrschende Strömung entschieden für das Recht Deutschlands gegen Frankreich ein; endlich veröffentlichte er während der orientalischen Wirren eine Streitschrift zugunsten Rußlands (der gewöhnlich Gladstone zugeschriebene Ausdruck »the unspeakable Turk« rührt von C. her). Ohne jemals im gewöhnlichen Sinne des Wortes populär zu sein, hat doch kein neuerer Schriftsteller auf die Literatur, vielleicht auf die ganze geistige Entwickelung seines Vaterlandes so sehr eingewirkt wie C., und wenigstens in seinem höhern Alter wurde der Kreis geistig hochstehender Männer, die ihn verehrten, größer und größer. 1865 ward er als Nachfolger Gladstones gegen Disraeli zum Rektor der Universität Edinburg erwählt; 1874 erhielt er den Orden pour le mérite; als er 1875 seinen 80. Geburtstag feierte, brachten ihm die hervorragendsten Männer Englands und Deutschlands den Zoll ihrer Bewunderung dar. Eine Gesamtausgabe der Werke Carlyles erschien in 37 Bänden (Lond. 1872–74); seine literarischen Jugendarbeiten sammelte Crockett (1897). Anthologien aus seinen Schriften sind herausgegeben von Ballantyne (1870), von Barrel (New York 1876), von Williamson (1879). Eine deutsche Ausgabe ausgewählter Schriften besorgte Kretzschmar (Leipz. 1855 bis 1856, 6 Bde.), eine deutsche Übersetzung seiner »Sozialpolitischen Schriften« Pfannkuche (mit Einleitung von Hensel, Götting. 1895–98, 3 Bde.), dann Bremer und Seliger (Leipz. 1902, 2 Bde.). Ferner erschienen noch ein bisher unbekannt gebliebenes Werk: »Historical sketchesen notable persons and events in the reigns of James I. and Charles I.« (Lond. 1898, 4. Aufl. 1901), und »Letters to his youngest sister« (hrsg. von Copeland, das. 1899). Aus seinem Nachlaß gab J. A. Froude »Reminiscences« heraus (1881, 2 Bde.). Seine Briefe aus den Jahren 1821–36 gab Norton heraus (1886–89, 4 Bde.), ebenso seinen Briefwechsel mit Emerson (1883, 2 Bde.) und mit Goethe (1887; deutsche Ausg., Berl. 1887). Derselbe veröffentlichte »Reminiscences« von C. (1887, 2 Bde.; deutsch von Jäger: »Lebenserinnerungen«, Bd. 1, Götting. 1897; Bd. 2: »Jane Welsh C.«, 1900); seine Briefe an Varnhagen von Ense gab in Übersetzung Preuß heraus (Berl. 1892). Aus der großen Zahl der Schriften über C. heben wir hervor: Hood, Thomas C., philosophic thinker (Lond. 1875); Shepherd, Memoirs of the life and writings of Thomas C. (das. 1881, 2 Bde.); Froude, Th. C., a history of the first forty years of his life (das. 1882, 2 Bde.) und Life in London (das. 1884, 2 Bde.; neue Ausg. 1890; deutsch von Fischer, Gotha 1886); Masson, C. personally and in his writings (Lond. 1885); Larkin, C., and the open secret of his life (das. 1886); von deutschen Schriften: Fischer, Thomas C. (Leipz. 1881); Oswald, Thomas C., ein Lebensbild und Goldkörner aus seinen Werken (das. 1882); Flügel, T. Carlyles religiöse und sittliche Entwickelung und Weltanschauung (das. 1887); v. Schulze-Gävernitz, Carlyles Welt- und Gesellschaftsanschauung (2. Aufl., Berl. 1897); Hensel, Thomas C. (2. Aufl., Stuttg. 1902).
http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.