Reichsmilitärgericht

Reichsmilitärgericht

Reichsmilitärgericht, der höchste militärische Gerichtshof in Deutschland. Das mit der Militärstrafgerichtsordnung vom 1. Okt. 1900 in Tätigkeit getretene R. ist für das ganze deutsche Heer und die deutsche Kriegsmarine der oberste Gerichtshof der Militärstrafgerichtsbarkeit (s. d., S. 827). Das R. ist 1) die einzige Revisionsinstanz in Militärstrafsachen (s. Revision), 2) oberste Beschwerdeinstanz, 3) das Gericht, das über die Anträge auf Wiederaufnahme des Verfahrens entscheidet, 4) die oberste Dienstaufsichtsstelle für Nachprüfung der rechtskräftigen militärgerichtlichen Urteile (Militärstrafgerichtsordnung, § 71, 377, 443, 113). Das R. hat seinen Sitz in Berlin; für den Kriegsfall kann der Kaiser den Sitz desselben oder einzelner Senate verlegen. An der Spitze steht als Präsident ein General oder Admiral mit dem Range eines kommandierenden Generals. Derselbe hat jedoch nur die Leitung der Geschäfte und die Dienstaufsicht, an der Rechtsprechung selbst, also an den Senats- und Plenarberatungen, nimmt er nicht teil. Außerdem ist er Vorgesetzter des Obermilitäranwalts und der ganzen Militäranwaltschaft (s. d.). Der Präsident wird vom Kaiser ernannt, ebenso sein Stellvertreter, als welcher ein Mitglied des Reichsmilitärgerichts nicht bestellt werden kann. Das R. gliedert sich in Senate. Jeder Senat besteht aus militärischen und juristischen Mitgliedern, und zwar ist er in der Regel mit vier militärischen und drei juristischen Mitgliedern bejetzt. Aus vier juristischen und drei militärischen Mitgliedern besteht er, wenn die eingelegte Revision lediglich auf Verletzung prozessualer oder allgemein bürgerlicher Rechtsvorschriften gestützt wird, also militärtechnische Fragen nicht in Betracht kommen. Die militärischen Mitglieder sind Offiziere, mindestens im Rang von Stabsoffizieren, sie werden vom Kaiser auf Vorschlag der Kontingentsherren für mindestens zwei Jahre ernannt. Die juristischen Mitglieder, die zum Richteramt befähigt und mindestens 35 Jahre alt sein müssen, zerfallen in Senatspräsidenten und Reichsmilitärgerichtsräte. Die Senatspräsidenten sind nicht die Vorsitzenden der Senate, sondern nur diejenigen, welche die Verhandlung leiten. Der formelle Vorsitzende ist in jedem Senat der rangälteste Offizier. Die außerhalb der Hauptverhandlung notwendigen Verfügungen erläßt der Senatspräsident. Eine Plenarentscheidung findet statt, wenn ein Senat in einer Rechtsfrage von einer frühern Entscheidung eines andern Senats oder des Plenums abweichen will. Auch im Plenum führt der rangälteste Offizier den formellen Vorsitz. Die Abstimmungen beim R. geschehen in folgender Weise. Der Berichterstatter stimmt in allen Fällen zuerst, der Vorsitzende zuletzt. In Senaten stimmt der Senatspräsident unmittelbar vor dem Vorsitzenden. Im übrigen gibt abwechselnd ein juristisches und ein militärisches Mitglied seine Stimme ab. Der im Dienst alter oder im Dienstrang Jüngere stimmt vor dem Ältern. Die militärischen Mitglieder können zugleich Mitglieder mehrerer Senate sein. Die Geschäftsordnung des Reichsmilitärgerichts arbeitet alljährlich das Plenum unter Vorsitz des Präsidenten aus. Die Disziplinargewalt über die juristischen Mitglieder des Reichsmilitärgerichts bestimmt sich nach dem Disziplinargesetz für Militärrichter vom 1. Dez. 1898 (s. Disziplinargewalt). – Für das bayrische Heer wurde durch Reichsgesetz vom 9. März 1898 beim R. in Berlin ein besonderer bayrischer Senat (III. Senat) gebildet, dessen militärische Mitglieder, Senatspräsident, Räte und Militäranwalt vom König von Bayern ernannt werden. Den Vorsitz hat auch hier nicht der Senatspräsident, sondern das dienstälteste militärische Mitglied (der bayrische Militärbevollmächtigte in Berlin). Der bayrische Senat ist für alle Geschäfte des Reichsmilitärgerichts zuständig, die das Urteil oder die Entscheidung eines bayrischen Militärgerichts oder die Entscheidung oder Verfügung eines bayrischen Gerichtsherrn zum Gegenstand haben. Betrifft eine Sache zugleich Angehörige des bayrischen Heeres und eines andern Kontingents oder der Marine, so treten der bayrische und ein andrer Senat zu gemeinsamer Verhandlung zusammen. Im übrigen gilt auch für den bayrischen Senat die Militärstrafgerichtsordnung vom 1. Dez. 1898 in vollem Umfang. Zur Wahrung des öffentlichen, insbes. des militärischen Interesses besteht eine aus einem Obermilitäranwalt und verschiedenen Militäranwälten zusammengesetzte Militäranwaltschaft. Rechtsanwälte sind, soweit Verbrechen oder Vergehen gegen das Bürgerliche Strafgesetzbuch den Gegenstand der Anklage bilden, unter gewissen Voraussetzungen auf ihren Antrag als Verteidiger zuzulassen. Sonst werden durch den Prä sidenten aus den am Sitze des Reichsmilitärgerichts wohnenden Rechtsanwälten nach Maßgabe des Bedürfnisses und nach Befragung der Anwaltskammer mehrere Rechtsanwälte ernannt, denen die Verteidigung übertragen. werden kann und welche die Übernahme nicht verweigern dürfen. Dienstvergehen der juristischen Mitglieder des Reichsmilitärgerichts werden in einem besondern Verfahren durch den Disziplinarhof beim R. verfolgt. Die bisherigen Präsidenten des Reichsmilitärgerichts waren: v. Gemmingen (1900–03), v. Massow (1903–06), Linde (seit 1906). Vgl. »Entscheidungen des Reichsmilitärgerichts« (bisher 9 Bde., Berl. 1902–06).


http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.

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