- Reformschulen
Reformschulen (Reformgymnasien und – Realgymnasien) nennt man kurzweg die höhern deutschen Lehranstalten, die in ihrem Lehrplan und demgemäß ihrer Organisation dem sogen. Altonaer oder dem Frankfurter System folgen. Das beide Systeme verbindende und nach außen unterscheidende Merkmal ist der gemeinsame dreijährige und dreiklassige lateinlose Unterbau, aus dem in Altona nach obenhin mit dem vierten Schuljahr der höhern Lehranstalten, dem siebenten der allgemeinen Schulpflicht (Untertertia), Realgymnasium (mit Latein neben Französisch u. Englisch) und Oberrealschule (oder Realschule: nur die beiden neuern Fremdsprachen), in Frankfurt außerdem das Gymnasium (Latein, Griechisch neben grundlegendem Französisch) sich abzweigen. Die lateinlose Oberrealschule, deren Unterbau eben den R. als gemeinsamer Stamm dient, paßt, wie man sieht, ohne weiteres in beide Systeme. Unwesentlich ist für diese, ob alle Zweige voll ausgebildet oder nur bis zur Erlangung des Anrechts auf den einjährig-freiwilligen Heerdienst (Abschluß der sechsten Jahresstufe, Untersekunda) als Progymnasien, Realprogymnasien und Realschulen fortgeführt sind, sowie ob die Gabelung an den Oberklassen derselben Anstalt sich vollzieht wie in Altona, oder ob den Schülern durch das Nebeneinander mehrerer Anstalten mit gleichartigem Unterbau an demselben Orte, wie in Frankfurt, Hamburg etc., Gelegenheit geboten wird, noch nach den ersten drei in einer höhern Lehranstalt zurückgelegten Klassenstufen (also mit 12–13 Jahren) sich über den einzuschlagenden besondern Studiengang frei zu entscheiden. Diese neue Schulform, seit 1873 am Realgymnasium zu Altona vom Direktor Ernst Schlee (s. d.) begründet und in der dortigen Beschränkung auf Realanstalten sozusagen geduldet, wurde 1891 unter dem Kultusminister Grafen v. Zedlitz und Trützschler sär sich wie in der erweiterten Frankfurter Anwendung, die inzwischen der Direktor des Goethegymnasiums, Karl Reinhardt (s. d.), in Frankfurt a. M. angeregt hatte, ausdrücklich anerkannt und in den Lehrplänen von 1892 neben den alten Lehrplänen der Gymnasien und Realgymnasien als zulässig ausgeführt. Die Lehrpläne beider Systeme sind hierunter in tabellarischer Übersicht mitgeteilt. Sie haben im Bereiche des Realschulwesens die öffentliche Meinung so weit für sich gewonnen, daß Realgymnasien wohl kaum noch anders als mit lateinlosem Unterbau neu begründet werden. Dagegen waltet in Gymnasialkreisen die Ansicht des Deutschen Gymnasialvereins, daß das humanistische Gymnasium in seinem altbewährten Bestand und seiner Eigenart von unten bis oben zu erhalten sei, offenbar noch vor. Besonders auf der 45. Versammlung deutscher Philologen und Schulmänner zu Bremen (1899) begegneten beide Ansichten, von ihren angesehensten Vertretern verfochten, einander in lebhaftem Widerstreit. Verbreitet ist der Irrtum, den übrigens die Vertreter der R. nicht verschulden, als steckten die Reformgymnasien dem Unterricht in den alten Sprachen ein niedrigeres Ziel. Dies ist nicht der Fall; nur der Weg, den sie einschlagen, ist ein andrer. Auch die Berliner Kommissionsberatung vom Juni 1900 und der königliche Erlaß vom 26. Nov. d. J. haben den R. die in weitern Kreisen erwartete Bevorzugung vor dem bestehenden Gymnasium nicht gebracht, sondern nur die Bahn zu weitern Versuchen offen gehalten und zu solchen ermutigt. Auch die ersten Reifeprüfungen an Reformgymnasien in Frankfurt, Hannover (Leibnizschule) etc. seit 1901 haben im ganzen die Erwartungen der Freunde der R. erfüllt. Damit ist aber nicht gesagt, daß das neue System dem alten an sich vorzuziehen sei. Darüber schwankt das Urteil noch sehr. Ganz ablehnend gegen die Reformbewegung verhält sich die Berliner städtische Schulverwaltung, beraten durch den angesehenen Stadtschulrat Michaelis. Von königlichen Gymnasien nahm bisher nur das Friedrichsgymnasium in Breslau den Frankfurter Lehrplan an. Im ganzen folgen (1906) dem Frankfurter Plan 82 höhere Lehranstalten in Deutschland, davon 65 in Preußen, dem Altonaer 12, davon 6 in Preußen.
Vgl. »Zeitschrift für die Reform der höheren Schulen« (Organ des Vereins für Schulreform; monatlich hrsg. von Lange, Berl., seit 1889); Nohl, Lehrbuch der Reformpädagogik für höhere Lehranstalten (2. Aufl., Essen 1901, 3 Bde.); »Verhandlungen über Fragen des höheren Unterrichts. Berlin 6.–8. Juni 1900«, mit Anhang von Gutachten (Halle 1901, amtlich). Ähnlich hat sich in Frankreich die dort seit etwa einem Jahrzehnt vielbesprochene und eingehend verhandelte Reform des höhern Schulwesens (enseignement secondaire) gestaltet, mit dem Unterschied jedoch, daß dort durch Erlaß des Unterrichtsministers vom 31. Mai 1902 das gesamte höhere Schulwesen einer durchgreifenden Neugestaltung in betreff der Lehrpläne unterzogen ward, und daß von einem gemeinsamen Unterbau für die lateintreibenden und lateinlosen höhern Schulen und damit für die erstern vom Beginn des fremdsprachlichen Unterrichts mit einer lebenden Sprache abgesehen ist. Nach den neuen Plänen gehen dort im Alter von etwa zehn Jahren die Schüler aus den Volks- oder Vorschulen entweder in die Lateinschule oder in die moderne Schule über. In beiden ist zunächst ein vierjähriger Kursus (Klasse VI bis III) vorgesehen. Dem der modernen Schule schließt sich ohne weiteres der dreijährige höhere Kursus (sciences-langues vivantes; Klasse II, I und mathématiques) an, so daß in diesem Studiengange der Unterkursus etwa der preußischen Real-, der vollständige Kursus der Oberrealschule entspricht. Die Schüler der Lateinschule (etwa Progymnasium) können ihre Schulstudien in einer von drei höhern Sektionen mit dreijährigem Kursus (Klasse II, I und philosophie) fortsetzen, deren Grundrichtungen durch ihre Namen hinreichend angedeutet sind: Sektion A; grec-latin, B: latin-langues vivantes, C; latin-sciences. Sektion A entspricht demnach wesentlich dem deutschen Gymnasium, B und C entsprechen unserm Realgymnasium mit der Maßgabe, daß man in Frankreich einen doppelten Typus dieser Anstalt je nach dem Vorwalten der sprachlichen oder der mathematisch-naturwissenschaftlichen Tendenz unterscheidet. In einer Anzahl von Stunden können übrigens die Sektionen A und B wie C und D (sciences-langues vivantes; s. oben) gemeinsam unterrichtet werden. Alle vier höhern Sektionen schließen mit dem Baccalauréat (Reifezeugnis) und verleihen mit dessen Erwerb gleiche Berechtigungen für Berufszweige (jedoch nicht mehr das in Frankreich bekanntlich aufgegebene Recht des einjährigen Heerdienstes). Vgl. »Plan d'études et programmes complets de l'enseignement secondaire« (Par. 1902, amtlich); Henze, Die neuen Lehrpläne der französischen höhern Knabenschulen (in den »Neuen Jahrbüchern für Pädagogik«, Bd. 12, Heft 3, Leipz. 1903).
http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.