- Psychopathische Minderwertigkeiten
Psychopathische Minderwertigkeiten, alle Abweichungen der geistigen Beschaffenheit eines Menschen vom normalen Typus, gröbere oder feinere Unvollkommenheiten und Mängel der persönlichen geistigen Veranlagung, die noch nicht zu den ausgeprägten Geisteskrankheiten gerechnet werden können, aber auch nicht mehr in den Bereich der geistigen Gesundheit fallen. Das Wesentliche und Gemeinsame in dem Geisteszustande des psychopathisch Minderwertigen ist die Disharmonie, es besteht ein Mißverhältnis zwischen den intellektuellen und moralischen Eigenschaften und auch zwischen den einzelnen intellektuellen Fähigkeiten selbst, ein Vorwiegen einzelner Talente, ein gesteigertes Triebleben, Unbeständigkeit und Beweglichkeit auf der einen, Stumpfheit und Untätigkeit auf der andern Seite, kurz jene eigentümliche Mischung von gesunden und krankhaften Zügen, die auf Schritt und Tritt das fehlende Gleichgewicht und Ebenmaß der geistigen Persönlichkeit erkennen läßt. Auf dem Gebiete der Vorstellungstätigkeit, des Verstandes im weitern Sinne, zeigt sich in hervorstechender Weise eine gewisse Einseitigkeit der intellektuellen Veranlagung, ein Hervorkehren einzelner, namentlich oft künstlerischer Anlagen, oder ein Überwiegen des Gedächtnisses neben wenig entwickelter Schärfe des Urteils; das Vorherrschen einer abnorm lebhaften Phantasietätigkeit, die sich nicht selten zu krankhafter Renommisterei und zur pathologischen Lüge (pseudologia phantastica) entwickelt. Zuweilen entstehen auf dem Boden einer sprunghaften, widerspruchsvollen Denkweise Zwangszustände, Zwangsvorstellungen, Zwangshandlungen, fixe Ideen etc. Im Gefühlsleben wechseln oft depressive, sentimentale Gemütszustände mit bizarrer Exaltation; motivlose Affektausbrüche (Jähzorn, Angst in Gestalt des pavor nocturnus) kommen schon im frühen Kindesalter vor, lebhafte Affekterregbarkeit beherrscht das ganze Leben. Leidenschaftliche Zuneigungen und krankhafte Abneigungen führen zu Exzessen, zu absonderlichen Liebhabereien und Spielereien. Im Handeln und Wollen dieser Menschen liegt auf Grund der Gleichgewichtsstörungen in den elementaren Vorgängen der Seele etwas Unbestimmtes und Unberechenbares; zu einer ernsten, konsequenten Lebensführung kommt es nur in Ausnahmefällen und nur in den leichtesten Graden. Plötzliche Einfälle und egoistische Motive bestimmen vielfach das Handeln. Hochmut und Egoismus sind die Triebfedern und machen den Kern des Charakters aus. Die moralische Seite der Persönlichkeit ist meist am unvollkommensten entwickelt, in höhern Graden handelt es sich häufig um moralischen Schwachsinn; selten findet man bedeutende Ausgestaltung moralischer Qualitäten neben relativ stärkerer Verkümmerung des Verstandes, und man redet dann von normaler Moralität mit intellektuellem Schwachsinn.
Meist zeigen die psychopathisch Minderwertigen Zeichen einer abnormen körperlichen Beschaffenheit (Degenerationszeichen), ungleiche Entwickelung der Gesichtshälften, abnorme Größe oder Kleinheit der Ohren, angewachsene Ohrläppchen, unentwickelte Zähne, Ausbleiben der zweiten Zahnung, abnorm großer oder kleiner Mund, Hasenscharte, Wolfsrachen, schiefer, flacher breiter oder steiler schmaler Gaumen, angeborne Blindheit, Albinismus, Retinitis pigmentosa, Zwergwuchs, Klumpfuß und Klumphand, abnorme Länge oder Kürze der Gliedmaßen im Verhältnis zum Rumpf, kleiner Penis, Hypo- und Epispadien, abnorme Behaarung des Körpers, Bartwuchs bei Frauen, verwachsene Augenbrauen etc. Ferner ungleichmäßige Innervation der Gefäßnerven, Migränezustände, gesteigerte Neigung zu Krämpfen und Konvulsionen, Verzögerung des Gehen- und Sprechenlernens, Stottern, Schielen etc. In schwächerer Ausprägung können krankhafte Züge der psychopathischen Minderwertigkeit bei sonst befähigten und hochentwickelten Menschen, selbst bei genial angelegten Naturen sich finden. Häufiger trifft man sie allerdings unter wechselvollem Bild in jener breiten Schicht, zu der auffallende Charaktere und Sonderlinge, Schwärmer und Träumer, sogen. problematische Naturen, originelle und exzentrische Menschen gehören. Ein nicht geringes Kontingent schließlich stellt der Bodensatz der menschlichen Gesellschaft: gescheiterte Existenzen, verkannte Genies, Vaganten und Gaukler und ganz besonders das Verbrechertum im weitesten Sinne. Die angebornen psychopathischen Minderwertigkeiten sind die häufigern und verdanken ihre Entstehung fast ausnahmslos erblicher Übertragung. Die erworbenen entspringen aus jenen mannigfaltigen, auf Körper und Geist einwirkenden Schädlichkeiten, denen jedes Individualleben ausgesetzt sein kann (Kopfverletzungen, erschöpfende Krankheiten, Überanstrengungen, Vergiftungen, ungünstige hygienische Verhältnisse, allgemeine Notlagen, Ausschweifungen etc.). Auch das Überstehen von Geisteskrankheit kann die Grundlage für eine erworbene psychopathische Minderwertigkeit werden, sogen. Heilung mit Defekt, während umgekehrt jede angeborne psychopathische Minderwertigkeit zur Entstehung von Geistesstörungen disponiert.
Eine strenge Grenze zwischen den Intensitätsstufen der psychopathischen Minderwertigkeit ist weder theoretisch noch praktisch zu ziehen, sie gehen fließend ineinander über, die leichtern Formen schließen an die Breite des Normalen an, die schweren (degenerativen) leiten zu den Geisteskrankheiten hinüber. Von Bedeutung ist die Festhaltung der gezogenen Grenzen nur in gerichtsärztlichen Fragen, da ein psychopathisch Degenerierter gelegentlich unter den Begriff der verminderten Zurechnungsfähigkeit fallen wird. Da die deutsche Strafgesetzgebung diesen Begriff nicht kennt, so ist bei Strafhandlungen von psychopathisch Minderwertigen auf mildernde Umstände Rücksicht zu nehmen, resp. in den allerschwersten Graden auf Strafunmündigkeit zu erkennen.
Der ärztlichen Behandlung bieten die psychopathischen Minderwertigkeiten nur beschränkten Spielraum. In der Hauptsache beschränkt sich das ärztliche Handeln auf die Anordnung vorbeugender Maßregeln. Auf die Erziehung und geeignete Lebensweise, Abwechselung von Ruhe mit körperlicher und geistiger Arbeit, Abhärtung nach jeder Richtung, Anleitung zur Selbstzucht und zum Gehorsam, Verhütung von Überanstrengungen und Exzessen jeder Art (Alkohol, Tabak etc.) ist Gewicht zu legen. Von besonderer Wichtigkeit ist die Wahl des Berufs, wobei namentlich alle mit Gemütsbewegungen und einseitigen geistiger Überanstrengung verbundenen Berufszweige vermieden werden sollen. Wo ausgesprochene krankhafte Störungen vorliegen, wird stets spezielles ärztliches Eingreifen angezeigt sein. In der Mehrzahl der Fälle ist die Anstaltsbehandlung am Platze.
http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.