- Nordische Kunstweberei
Nordische Kunstweberei, Erzeugnisse moderner Wirk-, Web- und Knüpftechnik in Wolle und Baumwolle, die seit dem Beginn der 1870er Jahre in Schweden und Norwegen auf Grund älterer Hausindustrie als Volkskunst neu entstanden sind und jetzt auch durch einige nordische Orte Deutschlands und Berlin einen breiten Raum im Bereiche der Textilkunstindustrie einnehmen. Wie überall die ersten Anfänge der Weberei auf einer Art Schlitzwirkerei oder Schichtweberei beruhen, bei der zwischen den mittels Handspulen eingeführten geradlinigen Mustern die Kette sich nur innerhalb bestimmter farbig abgesetzter Fadengruppen schließt, so lassen sich auch die ältesten Beispiele solcher Handfertigkeiten des skandinavischen Nordens auf heimischen Ursprung zurückführen. Noch in unsrer Zeit gelang es dem schwedischen Maler Jacob Kulle, der sich der Wiederbelebung der alten Webetechnik mit besonderm Eifer angenommen hatte, auf seinen Reisen in den nordischen Ländern eine Sammlung von 1400 verschiedenen Mustern zusam menzubringen. Aus ihrem Studium ergab sich, daß in der altnordischen Hausindustrie, deren Existenz bis in das 1. nachchristliche Jahrhundert zurückverfolgt werden kann, neun verschiedene Webarten geübt wurden, wobei man sieben Farben verwendete. Die Muster waren, was durch die Einfachheit der Technik bedingt war, ursprünglich und jahrhundertelang rein geometrische, die sich als Streifen in Wandbehängen, Kissenbezügen, Truhen- und Bankdecken wiederholen. Aus dem 12. Jahrh. bewahrt das Kunstindustriemuseum in Christiania das Bruchstück eines Wandteppichs, dessen Technik schon weiter ausgebildet erscheint, indem die Figurenmusterung auf hoch oder nieder stehender Kette aus bunten Wollfäden eingezogen ist, also eine Vorstufe der Gobelins darstellt; aber erst um 1500 wurde die Technik durch Einführung der flämischen Gobelinweberei erweitert und beweglicher gemacht, ohne jedoch eine besonders künstlerische Höhe zu erreichen. Auch die Pflege der gröbern Technik als Hausindustrie war im Laufe der Jahrhunderte vernachlässigt worden, bis der 1874 in Stockholm gegründete »Handarbetets-Vänner« (Verein der Handarbeitsfreunde) sich dieser halb vergessenen heimischen Industrie annahm und mit Unterstützung der schwedischen Staatsregierung eine Web- und Kunststickereischule errichtete, die gleichzeitig bezweckt, den vielen unbeschäftigten Mädchen und Frauen in Stadt und Land eine Erwerbsquelle zu eröffnen, aber auch durch die Freude am selbständigen künstlerischen Schaffen das Interesse für nationale Kunstindustrie rege zu halten und immer weiter zu verpflanzen. Auch in Lund (Schweden) bildete sich ein ähnlicher Verein. Trotz dieser systematischen Pflege der alten Webetechnik ist es aber in den nordischen Ländern nicht gelungen, den dort erzeugten Handwebereien ein größeres Absatzgebiet zu erschließen, was zum Teil der abgesonderten Lage der Skandinavischen Halbinsel, zum Teil dem dort fehlenden Unternehmungsgeist zugeschrieben wird. 1896 gründete darum ein dänischer Unternehmer, Otto Tvermoes aus Kopenhagen, in Berlin mit deutschem Kapital eine Fabrik zur Anfertigung nordischer Gobelins unter der Firma »Nordische Kunstweberei, G. m. b. H.«, die einen so schnellen Aufschwung nahm, daß sie 1899 bereits über 100 Arbeiter und Arbeiterinnen an über 50 Handwebestühlen beschäftigen konnte. Aus dem Bestreben, die wirtschaftliche Lage der bäuerlichen Bevölkerung in ärmern Gegenden zu verbessern, ist auch die im Frühjahr 1896 hauptsächlich auf Anregung des Pastors Jacobsen erfolgte Begründung der Webschule in dem nordschleswigschen Dorf Scherrebek hervorgegangen, deren Erzeugnisse durch Ausstellungen in Hamburg, Berlin, München und andern deutschen Städten rasch allgemeine Anerkennung gefunden haben und zum Teil von deutschen und ausländischen Museen als mustergültig angekauft worden sind. Auch in Schleswig war die heimische Hausindustrie (vornehmlich Kerbschnitzerei und Weberei) ausgestorben, und als es sich um die Einführung einer neuen Technik handelte, wurde auf die nordische Wirkerei hingewiesen. Bei der Begründung der Schule wurden darum aus Norwegen nicht nur eine Lehrkraft, sondern auch die alten geometrischen Muster und das Material (die mit Pflanzensäften gefärbte Wolle) bezogen. Allmählich hat sich die Schule aber vom Ausland unabhängig gemacht und nach modernen Mustern gearbeitet, die von O. Eckmann, W. Leistikow (s. Tafel »Möbel II«, Fig. 6), Hans Thoma und einigen hamburgischen Künstlern entworfen worden sind, wobei neben rein geometrischen auch figürliche und pflanzliche Motive, oft zu großen zusammenhängenden Darstellungen vereinigt, geboten wurden. Dabei wurde das Hauptgewicht auf klare, energische Zeichnung und kräftig wirkende Farben gelegt. Alle jene Ansätze auf diesem Gebiete haben sich jedoch bei uns nicht in der erhofften Weise lebensfähig erhalten können, so daß von eigentlichen Werkstätten in Deutschland nicht mehr die Rede sein kann; nur in Schweden und Norwegen ist diese Heimatkunst nicht aufgegeben, sondern bildet nach wie vor einen Haupternährungszweig der weiblichen Bevölkerung. – Was die technischen Abwechselungen der nordischen Kunstweberei angeht, so sind mit den Erzeugnissen auch einige ihrer Bezeichnungen allgemein geworden: die leichtesten Webarten sind Rosengang und Skelbad; beide werden nicht, wie gewöhnlich, mit den Fingern, sondern mit den Schützen gearbeitet, und zwar überwiegend in baumwollenen Geweben, die auch breiter hergestellt werden können. Bei andern Stoffen: Munkabalte, Dukagang und Krabbasnar, werden die bunten Fäden des Einschlages, der das Muster bildet, aus starker nordischer Wolle stets mit der Hand durch die Kette geflochten, während für den ripsartig wirkenden Grund das feinere wollene Garn, das in der Spule des Schützen sitzt, benutzt wird. Eine plüschartige Webart wird Transa-Flossa genannt, die wie eine Smyrnastickerei in Knüpfarbeit auf einem Ripsgrund erscheint, deren Flor aus Wollfäden eingeknotet ist und zur Erreichung einer gleichmäßigen Oberfläche geschoren wird. Die Wirkereien in sogen. halber Gobelinarbeit werden Rödlakan genannt. Es sind dies die im Flämischen mit Rukkelaken bezeichneten kleinen Rückenteppiche, im Mittelalter Tücher, Behänge oder kleine Teppiche, die allenthalben, auch in Deutschland, als Wandbedeckung über der Bank und im Chorgestühl dienten, aber nicht fest mit der Wand verbunden, sondern »gerückt« werden konnten. Vgl. Grosch, Altnorwegische Teppichmuster (Berl. 1889) und Altnorwegische Bildteppiche (das. 1901); »Zeitschrift für die gesamte Textilindustrie«, 1898, Nr. 5; »Kunstgewerbeblatt«, 1898, S. 153–156.
http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.