- Nordische Altertümer
Nordische Altertümer. Voreiszeitliche menschliche Bewohner scheinen im Norden Europas nicht vorhanden gewesen zu sein, oder aber ihre Reste und die ihrer Kultur sind durch die zermalmende Wirkung der Eismassen während der Glazialperiode vernichtet worden; nachweisbar ist jedenfalls nichts von einem menschlichen Bewohner während oder vor dieser Zeit, seine Spuren setzen vielmehr erst ein zu einer Periode, die!zweifellos geraume Zeiträume hinter dem Rückgang der letzten Vergletscherung nach Skandinavien liegen. Die ersten klaren Belege für die Anwesenheit des Menschen im Norden treten uns in großem Maßstab in Gestalt der Muschelhaufen oder Kjökkenmöddinge (s. d.) entgegen; ältere Spuren glaubt man neuerdings in Funden zu sehen, für welche die lange, aus Hirschknochen gefertigte Harpune etwa nach Art der auf der Tafel »Kultur der Steinzeit II«, Fig. 13, wiedergegebenen charakteristisch ist, und die man als etwas jünger als das Magdalénien Frankreichs und Mitteleuropas ansehen muß. Für die Gleichzeitigkeit des paläolithischen Nordeuropäers mit dem Renntier fehlen einstweilen noch alle Beweise.
Über die Stufenfolge der Kulturentwickelung des Nordeuropäers von den Kjökkenmöddinge an bis zum Beginn der vollgeschichtlichen Zeit besitzen wir heute ein allgemein anerkanntes klares Bild, dank der Vorarbeit zahlreicher nordischer Prähistoriker, wie Ch. J. Thomsen (1788–1865), S. Nilsson (1787–1883), J. J. A. Worsaae (1821–85), B. E. Hildebrand und H. O. Hildebrand, Montelius, Sophus Müller, Engelhardt, Vedel, Sehested. So z. B. ist die Ausstellung des sogen. Dreiperiodensystems Steinzeit-Bronzezeit-Eisenzeit von hier ausgegangen und erfolgreich zur Anerkennung gebracht worden. Lediglich in bezug auf die absolute Chronologie bestehen zwischen den Hauptvertretern der Gegenwart, Montelius und S. Müller, noch einige Gegensätze.
Die nordische Steinzeit wird zerlegt in eine ältere: die Zeit der Muschelhaufen, und in eine jüngere: die Zeit der Steingräber. Jene setzt Montelius vor das 5., S. Müller in das 4. vorchristliche Jahrtausend; diese reicht nach Montelius vom 5. bis zum Anfang des 2., nach Müller vom 3. bis über die Mitte des 2. Jahrtausends v. Chr. hinaus. Die Steingräber (s. Tafel »Vorgeschichtliche Gräber I«, Bd. 8) zerfallen nach Art und Alter in die sogen. kleinen Kammern oder Stuben (dän. Dysse, Fig. 3, 6 u. 7), die großen Kammern (Ganggräber, schwed. gånggrift, Riesenstuben, dän. Jaettestue, Fig. 2) und die Langgräber ohne Gang, die sogen. Kisten. Als charakteristisches Manufakt entspricht dem ersten Zeitraum das dünnnackige (s. Tafel »Kultur der Steinzeit IV«, Fig. 4), dem zweiten das dicknackige Beil, dem dritten der Feuersteindolch (Fig. 22).
Wie in vielen andern Teilen Europas, so kündigt sich auch im Norden die Metallzeit in Gestalt des Kupfers an; nach Montelius fällt dessen erstes Auftreten in die Zeit der Ganggräber, während seine Hauptverbreitung mit der Zeit der Steincisten zusammenfällt. Absolut setzt Montelius dies Auftreten um etwa 2500 v. Chr. an. Die Bronzezeit zerfällt nach S. Müller in zwei Stufen mit je nur zwei, nach Montelius hingegen in zwei Stufen mit nicht weniger als zusammen sechs Zeiträumen oder Unterabteilungen; jener läßt sie erst am Ende, dieser bereits am Anfang des 2. vorchristlichen Jahrtausends beginnen, jener sie im 4. Jahrh., dieser sie um 500 v. Chr. enden. Charakteristisch für den ältern Teil der nordischen Bronzezeit sind: einstweilige Beibehaltung des meist reich ausgestatteten Skelettgrabes der jüngern Steinzeit (s. Tafel »Vorgeschichtliche Gräber II«, Fig. 12), Vorwalten der Spiral- und der Zickzacklinie im Ornament, Vorherrschen des Bronzegusses im Gegensatz zum spätern Hämmern; für den spätern Teil der ältern Bronzezeit und die gesamte jüngere Hälfte ist das Hauptcharakteristikum die Leichenverbrennung und das Urnengrab oder andre Grabformen mit verbrannten Knochen als Inhalt (Tafel II, Fig. 8–11), sodann die überaus zahlreichen Feld- und Moorfunde. Auch in Form, Stil und Ornamentierung des Manufakts macht sich in den spätern Zeiten der Bronzezeit ein neuer Geschmack geltend, der sicherlich nicht immer direkt von Südeuropa aus eingeführt, wohl aber doch unzweifelhaft von dorther beeinflußt worden ist. Über den Grad und das Ausmaß der Abhängigkeit des entlegenen Nordens vom weit vorgeschrittenen Süden Europas gehen die Ansichten heute wieder mehr als je auseinander: während die einen alles von dorther entlehnt wissen wollen, wenigstens in den Anfängen (die Metalle selbst samt der Technik ihrer ersten Bearbeitung), sieht eine andre, neuere Richtung die nordische Kultur als ebenso selbständig und autochthon an wie den Germanen selbst, der seinen und seiner ganzen Kultur Ausbildungsherd hier und nicht etwa in südlichern oder südöstlichern Gebieten haben soll. Selbst die Runen sind nach dieser Schule (Wilser) hier im Norden entstanden und von da nach Süden gewandert. Tatsächlich ist die technische und ästhetische Selbständigkeit der bronzezeitlichen Nordeuropäer sehr groß ohne daß jedoch die Tatsache der erstmaligen Entlehnung aller höhern Lebensformen aus dem Süden ernsthaft weggeleugnet werden könnte. Über die Kleidung während des langen Zeitraumes unterrichten Holz- und Baumsarg- sowie Steincistenfunde aus Jütland und andern Gegenden. Sie enthielten Radmäntel, Hüftröcke, Gürtel, Gamaschen, Mützen, Schals, alles aus Wolle, eventuell mit eingemischten Tierhaaren, Lederschuhe, Hornkämme, Haarnetze, Bronzefibeln und andern Schmuck. Im großen und ganzen ist die Frauentracht auf dem Land im Norden noch heute die gleiche wie in der Bronzezeit; bei der männlichen ist das Beinkleid seither hinzugekommen. Angesichts des einst so hervorragenden Geschmacks in Stil und Gepräge aller Geräte ist die Unbekanntschaft mit der Lötkunst recht auffallend; man behalf sich kümmerlich mit dem Nieten der Bruchstellen oder dem Übergießen der Nähte mit flüssiger Bronze. Über die sonstige Lebensführung zu Lande und zu Wasser, in Krieg und in Frieden während der Bronzezeit unterrichten sehr treffend zahlreiche Stein- und Felsenbilder (s. d.), dort Hällristningar genannt. Sie zeigen uns Waffen und bewaffnete Männer, bemannte und unbemannte Schiffe, Schiffschlachten, Zweigespanne vor zweiräderigen Wagen samt ihrem Lenker, kämpfende Tiere, feierliche Auszüge, Opferhandlungen, kurz, sie erbringen uns den Beweis von einem regen, wenn auch noch primitiven Kulturleben auch an den Ufern der Ostsee.
Die Eisenzeit Nordeuropas teilt Montelius in vier Abschnitte: 1) die vorrömische Eisenzeit, von der Mitte des letzten Jahrtausends v. Chr. bis zum Anfang unsrer Zeitrechnung, 2) die römische Eisenzeit, vom Anfang unsrer Zeitrechnung bis ums Jahr 400, 3) die Zeit der Völkerwanderungen, von ungefähr 400–800, 4) die Übergangszeit vom Heidentum zum Christentum (Wikingerzeit), von ungefähr 800 bis zur Mitte des 11. Jahrh. S. Müller teilt fast ebenso ein; er differiert lediglich in der Anfangszeit. Bezeichnend für die einzelnen Zeiträume sind: 1) das Fernbleiben der Hallstattkultur, an deren Stelle wir eine ruhige, ungestörte Weiterentwickelung der alten schönen Formen vorfinden, die auch jetzt noch viel Originalität und Erfindungsgabe, mit künstlerischer Feinheit vereint, verraten. S. Müller spricht für diese ausgehende Bronze- und kaum erst beginnende Eisenzeit direkt von einer Nationalkultur, die ohne Verminderung des künstlerischen Wertes weiterbildete, was sie von außen her ererbte. 2) Durch die Einführung der keltischen Eisenzeit (La Tène) wird die unter südlichen Einflüssen bisher stetig fortgeschrittene Entwickelung des Nordens jäh abgebrochen; Skandinavien, das bis dahin zwar nicht ganz außerhalb der allgemeinen Kulturbewegung gestanden hatte, aber doch ziemlich abgeschlossen gewesen war, öffnet sich jetzt der Fremde weit, um sich fortan auch nicht mehr zu verschließen. So ist der universale römische Charakter, den in den ersten Jahrhunderten nach Christi Geburt ganz Norddeutschland über Ostpreußen hinaus bis Esthland, Litauen, Polen und Galizien zeigten, auch Skandinavien bis ins mittlere Schweden und das südliche Norwegen eigen, wobei indessen nicht zu verkennen ist, daß trotz ausgedehntester Handelsverbindungen vieles in Stil und Gepräge nordisch geblieben ist. 3) Die Völkerwanderungszeit ist für den Norden eine Epoche des größten Luxus, wie aus den unerhört reichen Grabfunden hervorgeht. Hersteller der prächtigen Trink- und Speisegeräte, des Schmuckes etc. sind römische und provinzialrömische Fabriken (am Rhein und in Frankreich), dann auch Südostrußland u.a. O. Die in Westeuropa herrschende Tierornamentik (s. Tafel »Kultur der Metallzeit IV«, Fig. 11) wird selbständig zur höchsten Blüte fortgebildet. 4) In der Wikingerzeit bleibt die nordische Kultur noch heidnisch und prähistorisch; sie bestattet den Toten in voller Ausrüstung, bald in seinem aufs Land gezogenen Schiffe (s. Schiffssetzungen), bald mit seinem Wagen, seinem Pferd oder Hund; ne wirft gewaltige Grabhügel auf und verbrennt die Toten noch tausend Jahre nach Christi Geburt.
Vgl. Nilsson, Die Ureinwohner des skandinavischen Nordens (deutsch von J. Mestorf, Hamb. 1863 bis 1868); Madsen, S. Müller u.a., Affaldsdynger fra Stenalderen (Kopenh. 1900); Madsen, Afbildninger af danske oldsager og mindesmärker, Stenalderen, Broncealderen (das. 1868–76, 3 Hefte); Undset, Das erste Auftreten des Eisens in Nordeuropa (deutsch von Mestorf, Hamb. 1882); Rygh, Norske oldsager (Christiania 1885, 2 Tle.); Hildebrand, Das heidnische Zeitalter in Schweden (deutsch von Mestorf, Hamb. 1873); Penka, Die Heimat der Germanen (Wien 1893, aus den »Mitteilungen der Anthropologischen Gesellschaft«); Wilser, Die Germanen (Eisenach 1904); S. Müller, Nordische Altertumskunde (deutsch, Straßb. 1897, 2 Bde.), und die Schriften von Montelius und Worsaae.
http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.