- Lamarmŏra
Lamarmŏra, Alfonso Ferrero, Cavaliere del, ital. General und Staatsmann, geb. 18. Nov. 1804 in Turin, gest. 5. Jan. 1878 in Florenz, erhielt seine Bildung auf der sardinischen Militärakademie, trat 1823 als Leutnant in die Artillerie, wurde 1831 Kapitän, bereiste Europa und den Orient und zeichnete sich 1848 im Kriege gegen Österreich bei der Belagerung von Peschiera aus. Am 27. Okt. 1848 zum Brigadegeneral befördert, übernahm er in den Ministerien Perrone (November 1848) und Gioberti (Februar 1849) auf kurze Zeiten das Portefeuille des Krieges. Im März 1849 befehligte er die an den Grenzen von Parma und Toskana aufgestellte Division, und nach dem Frieden warf er den Aufstand in Genua nieder. Am 3. Nov. 1849 übernahm er abermals das Kriegsministerium und reorganisierte die zerrüttete Armee, vor allem den Generalstab, nach dem Muster des französischen und preußischen Heeres, bis er im April 1855 die sardinischen Hilfstruppen nach der Krim führte. Nach dem Frieden zum General der Armee ernannt, war er vom Juli 1856 bis April 1859 abermals Kriegs- und Marineminister. Beim Ausbruch des Krieges gegen Österreich übergab er sein Portefeuille an Cavour und ward Chef des Generalstabs, trat jedoch nach dem Frieden von Villafranca unter Übernahme des Ministeriums des Krieges und der Marine bis Januar 1860 an die Spitze des Kabinetts. Im November 1861 ward er erster Präfekt von Neapel und bewährte seine Energie gegenüber dem von Garibaldi versuchten Freischareneinfall ins römische Gebiet sowie gegen das Brigantenunwesen und die Umtriebe der Camorra. Nach den Turiner Unruhen im September 1864 trat er als Minister der auswärtigen Angelegenheiten wieder an die Spitze des Kabinetts und führte die Septemberkonvention mit Frankreich durch. Sein Werk war ferner der Abschluß des Handelsvertrags mit Deutschland und die Allianz mit Preußen vom April 1866. Das durch die schwierige Lage Preußens bedingte Zaudern Bismarcks bei diesen Verhandlungen und der Versuch der preußischen Regierung, auf den italienischen Kriegsplan einzuwirken, verletzten Lamarmoras Eitelkeit, machten ihn mißtrauisch gegen Preußen und bewogen ihn zu einer zurückhaltenden Politik. Als im Juni 1866 der Krieg ausbrach, wurde L. Minister ohne Portefeuille und ging als Generalstabschef mit dem König zum Heer ab. Von ihm rührte der verfehlte Feldzugsplan her, und da er nach der unglücklichen Schlacht bei Custoza (24. Juni) in unbegreiflicher Untätigkeit verharrte, so erhob sich die öffentliche Meinung in heftigem Unwillen wider ihn. Daher legte er im August 1866 seine Ämter nieder. Als Deputierter von Biella suchte er wiederholt sein allgemein getadeltes Verhalten im Kriege von 1866 zu verteidigen, so 1868 in dem Sendschreiben »An die Wähler von Biella« (deutsch von Poppe, Berl. 1868). Empfindlich beleidigt wurde er durch eine mißverstandene Äußerung über die italienische Kriegführung im preußischen Generalstabswerk über den Krieg von 1866. Er interpellierte deswegen im Juli 1868 in der Kammer den Ministerpräsidenten Menabrea und veröffentlichte die berühmte »Stoß-ins-Herz-Depesche« des Grafen Usedom vom 17. Juni 1866, die nach seiner Meinung die preußische Kriegführung als völkerrechtswidrig brandmarken sollte; aber es gelang ihm nicht, die öffentliche Meinung für sich günstig zu stimmen. L. neigte sich nun immer mehr Frankreich zu und stellte sich im Parlament an die Spitze einer Gruppe, die durch definitive Anerkennung des Restes des Kirchenstaats den Bund mit Frankreich befestigen wollte. Nach dem Tode seines frühern Adjutanten und Freundes Govone (s. d.) veröffentlichte er dessen Depeschen über seine Mission nach Berlin 1866 (»Un po' piu di luce«, 1873, 1. Bd.; deutsch, Mainz 1873), um Bismarcks Politik als treulos und verräterisch an Italien und Deutschland zu kennzeichnen. Das Buch wurde von den Feinden Preußens mehrfach ausgebeutet, auch von den preußischen Ultramontanen im Abgeordnetenhaus 16. Jan. 1874 zur Sprache gebracht, was Bismarck zu einer schroffen Verurteilung Lamarmoras veranlaßte. Auch die italienische Regierung tadelte sein Vorgehen und machte durch eine Änderung des Strafgesetzbuches eine ähnliche Verletzung von Staatsgeheimnissen für die Zukunft unmöglich. Der 2. Band von Lamarmoras Buch erschien daher nicht, doch suchte L. sein Verfahren durch eine neue Schrift: »I segreti di stato nel governo costituzionale« (Flor. 1877), zu verteidigen. 1891 wurde ihm in Turin ein Reiterstandbild errichtet. Vgl. Massari, Il generale Alfonso di L. (Mail. 1880) und die entsprechenden Schriften von Luigi Chiala (s. d.).
http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.