- Gebirgseisenbahnen
Gebirgseisenbahnen (hierzu Tafel »Gebirgseisenbahnen I u. II«), Schienenwege, die im Anschluß an das allgemeine Eisenbahnnetz Gebirgsgegenden durchschneiden, und zwar in der Regel ohne außergewöhnliche Betriebssysteme. Hiervon zu unterscheiden sind die Bergbahnen (s.d.), die meist nur einzelne Verkehrsorte, namentlich Aussichtspunkte (und auch diese z. T. nur in den Sommermonaten) erschließen, außergewöhnlich steile Neigungen und fast stets besondere Betriebssysteme aufweisen. G. folgen, soweit tunlich, den größern Tälern, um so allmählich zur Höhe aufzusteigen und die Wasserscheide in einer möglichst tiefen Einsattelung des Gebirgskammes (z. B. Brennerbahn) offen zu überschreiten oder sie an einer möglichst schmalen Stelle mittels eines Scheiteltunnels zu durchbrechen (z. B. Mont Cenis, Gotthard, Arlberg, Albula, Simplonbahn u. v. a.). In beiden Fällen, und auch wenn es sich nur um die einseitige Ersteigung einer größern Höhe handelt, pflegen jedoch die Täler in ihrem obern Teile so steil zu werden, daß sie mit der für eine gewöhnliche Reibungsbahn zulässigen Steigung nicht mehr auf direktem Weg erklommen werden können. Demnach muß die Bahnlinie entweder die Talsohle schon lange vorher verlassen, um oft in sehr großen Höhen »am Hange« sich hinauszuziehen (Arlbergbahn), oder es muß eine künstliche Verlängerung (sogen. Entwickelung) zu Hilfe genommen werden, um das Steigungsverhältnis auf eine zulässige Grenze herabzumindern. Dies kann geschehen durch Ausbiegen in Seitentäler meist mit Kehrtunnels (Brennerbahn bei Sterzing, Mont Cenisbahn bei Modane, Waldshut-Immendingen u. a.), oder durch Schleifenbildungen an den Hängen des Haupttales (Gotthardbahn bei Waffen, Schwarzwaldbahn u. a.), oder endlich durch mehr oder weniger unterirdische Linienführung in Gestalt von Tunnelschleifen (Bologna-Pistoja) und Tunnelschlingen (spiralförmiger Hebungstunnel), wenn auf keine andre Weise Platz für die Längenentwickelung zu schaffen ist (Gotthardbahn, am Pfaffensprung bei Waffen und an vier Stellen der Südseite); noch auffallender bei der Albulabahn (s. die charakteristischen Lagepläne auf S. 413). Durch solche Mittel, namentlich durch Hebungstunnel, und noch besser und billiger durch Einlegung von Zahnstrecken (s. unten), hat man die Möglichkeit, plötzliche Steigungen der Talsohle, sogen. Talstufen oder Talschwellen, an Ort und Stelle zu überwinden, und im übrigen die Linie auf der Talsohle weiter zu führen, was im allgemeinen billiger und günstiger ist für Bau und Betrieb sowie für den Verkehr mit den Ortschaften, zumal im Hochgebirge, als wenn die Bahn hoch am Hange mehr den Unbilden des Klimas ausgesetzt, schwieriger zu befestigen, für Beamte, Arbeiter und Bevölkerung schwer zugänglich ist. Dieser Zweck vorwiegenden Talbaues ist bei der Gotthardbahn in hohem Maß erreicht, und es erscheinen die erzielten Vorteile nicht als zu teuer erkauft. Bei G. ist sonach die Linienführung (Trassierung) von besonderer Wichtigkeit, zumal dabei außer den angedeuteten Grundzügen auch viele andre Rücksichten zu beachten sind, als: die klimatischen Verhältnisse, die Überschreitung der Nebentäler, oft mit reißenden Wildbächen; die Vermeidung zu steiler Hänge und geologisch bedenklicher Schichtungen und Schuttmassen wie auch der Lawinengänge; die zweckmäßige, oft sehr schwierige Anlage der Stationen; die Zugänglichkeit der Baustellen für Menschen, Arbeitstiere und Baumaterial; die Unterkunft der Arbeiter u. s. s. Häufig wird die Lage des Scheiteltunnels ziemlich feststehen. Dann ist die Linienführung von oben nach unten absteigend zu entwickeln.
Die Grenze der für G. zulässigen Neigungsverhältnisse ist im Laufe der Zeit mit den Fortschritten des Lokomotivbaues erheblich hinausgerückt. Zu Anfang der Entwickelung des Eisenbahnwesens wurden Neigungen über 3,3 auf Tausend (1: 300) schon für Ausnahmen, solche über 10–12,50/00 kaum für zulässig gehalten. Kurze steile Strecken mit 21–22°, e. wurden bereits als sogen. schiefe Ebenen mit Seilbetrieb eingerichtet (wie Erkrath-Hochdahl bei Elberfeld, Aachen-Ronheide u. a.). Für die erste Giovibahn bei Genua mit 35,40/00 (s. die Tabelle, S. 414) wurde anfangs eine besondere Art indirekten Seilbetriebs von Agudio (s. Bergbahnen, S. 662) geplant; die Verbesserung der Lokomotiven ermöglichte es jedoch, die Bahn anfangs durch sogen. Zwillingsmaschinen, später durch regelrechte, jedoch sehr schwere Lokomotiven zu betreiben. Die zurzeit größten Höhen (abgesehen von den Bergbahnen) erreichen in Europa die schmalspurigen (1 m), aber für Verkehr aller Art dienenden Bahnen Landquart-Davos in der Schweiz, die mit 1634 m ü. M. eine Nebenwasserscheide zwischen dem Landquart- und Davoser Tal offen überschreitet, und die Albulabahn mit 1823 m Scheitelhöhe im Tunnel (s. die Tabelle). Hervorragende außereuropäische G. sind unter andern einige Teilstrecken der nordamerikanischen Pacificbahnen, in Südamerika die Andenbahnen von Peru (Tafel II, Fig. 1), die über 4700 m Meereshöhe erreichen, in Asien die nordwestlichen Bahnen Indiens. Über die jetzt bei G. vorkommenden Neigungen gibt die Tabelle S. 414 Aufschluß, ebenso über die erstiegenen Höhen und andre Verhältnisse einiger bekannter G. Europas. Einen anschaulichen Vergleich der Höhenlage zahlreicher G. und Bergbahnen gewährt ferner die Höhentafel beim Artikel »Bergbahnen«.
In neuester Zeit hat die Anwendung des »gemischten Bahnsystems«, d. h. die Verbindung von Reibungs- und Zahnstrecken ohne Wechsel der Lokomotive, neben zahlreichen Sommerverkehrsbahnen der Schweiz sich auch für größere Bahnen mit dauerndem Verkehr aller Art durchaus bewährt, ja sich im Gebirge auch gegen Schneehindernisse der gewöhnlichen Reibungsbahn überlegen gezeigt. Es ist deshalb künftig beim Neubau großer G. ernstlich zu untersuchen, ob nicht, zumal bei großem Lastverkehr, das gemischte System der künstlichen Verlängerung vorzuziehen ist. Die dadurch für kurze Strecken herbeigeführte Verteuerung des Oberbaues und Verlangsamung der Bewegung kann durch den Wegfall der großen und sehr teuern künstlichen Verlängerung mit ihren zahlreichen Tunnels und gegenüber der dauernden Vergrößerung der Betriebslänge sehr wohl mehr als aufgewogen werden. So muß unter anderm die Wirtschaftlichkeit dieser künstlichen Verlängerung der Albulabahn bei dem heutigen Stande der Technik ernsten Zweifeln begegnen. – Bei dem gemischten System erhalten die Lokomotiven zwei voneinander unabhängige Maschinen (also vier Zylinder), so daß sie unter Zuhilfenahme des Zahnradantriebs auf den Zahnstrecken mit geringerer Geschwindigkeit dasselbe Zuggewicht bergauf ziehen, das sie ohne Zahnradantrieb auf der gewöhnlichen Reibungsbahn mit größerer Geschwindigkeit fördern. Beispielsweise haben die Zahnstrecken auf der Harzbahn 600/00, auf der Erzbergbahn 700/00, die Reibungsstrecken auf beiden 250/00 Steigung.
Bei Durchführung des gewöhnlichen Reibungssystems ist für die (meist doch durch besondere Lokomotiven zu betreibenden) eigentlichen Gebirgsstrecken eine bestimmte maßgebende Steigung festzusetzen, diese alsdann tunlichst gleichmäßig durchzuführen und nur in den Stationen auf kurze Längen mit wagerechten oder flach geneigten Strecken (nicht steiler als 2,50/00) zu unterbrechen, damit überflüssige Länge vermieden und die jener Steigung angepaßte Zugkraft der Lokomotiven am besten ausgenutzt werden kann. –
Die an Umfang und Verkehrsbedeutung wie an Großartigkeit der Landschaft hervorragendste Gebirgsbahn Europas ist die Sankt Gotthardbahn (s.d.). Sie bietet zahlreiche großartige und reizvolle Landschaftsbilder; zwei kleine Ausschnitte von solchen sind auf Tafel I, Fig. 1 u. 2 wiedergegeben. Das erste Bild ist gesehen von einem Punkt am rechten (östlichen) Ufer der Reuß, unmittelbar oberhalb der (gegenüber) von W. herab einmündenden Meyen-Reuß.
Man erblickt zunächst ganz unten die Steinbrücke, mit der die von Amsteg heraufkommende Landstraße die Meyen-Reuß überschreitet, um weiterhin in Windungen am Kirchberge hinauf den hinter diesem zu denkenden Ort Waffen zu ersteigen. Gleich hinter der Straßenbrücke überschreitet die Gotthardbahn, aus einem kleinen Tunnel heraustretend und nach links ansteigend, dieselbe Meyen-Reuß mit einer eisernen Brücke, verschwindet aber sogleich wieder in den Kirchbergtunnel, um nach längerer Entwickelung (s. den Lageplan) die Station Waffen zu erreichen. Weiterhin tritt sie dann hinter dem Kirchberge wieder hervor, jetzt nach rechts ansteigend, überschreitet die Meyen-Reuß zum zweitenmal und nach Umkehr im (rechts zu denkenden) Leggensteintunnel mit einer im Bilde nicht sichtbaren dritten Brücke. Nach Durchschreitung eines kleinen Tunnels erscheint sie dann in größerer Ferne und Höhe wieder und steigt nun nach links hin am westlichen Abhange weiter in der Richtung auf Göschenen zu. – Tafel II zeigt einen eisernen Viadukt der Linie Lima-Oroya über eine Felsenschlucht der Peruanischen Anden von gewaltiger Höhe über der Talsohle und eine Steinbrücke der Albulabahn von 42 m Spannweite über die dort 85 m tiefe Felsenschlucht des Albulaflusses. Dahinter wird die kleinere Brücke der Schynpaßstraße über dieselbe Schlucht sichtbar.
http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.