Brüdergemeine

Brüdergemeine

Brüdergemeine (Brüderunität, Herrnhuter), die aus Nachkommen der Böhmischen und Mährischen Brüder (s.d.) entstandene Religionsgesellschaft. Steter Druck in den österreichischen Landen veranlaßte im 17. und 18. Jahrh. zu fortgesetzter Auswanderung evangelisch Gesinnter. Eine Anzahl solcher Emigranten, unter ihnen bewußte Nachkommen der Brüder, fand 1722 Aufnahme bei dem Grafen Zinzendorf (s.d.) und ließ sich auf seinem Rittergut Berthelsdorf in der Lausitz nieder, wo der Ort Herrnhut entstand. Als in der Emigrantenkolonie Zwistigkeiten mancherlei Art, hervorgerufen durch Lehrstreitigkeiten und religiöse Schwärmerei, ausbrachen, nahm sich Zinzendorf persönlich der Leitung an. Es gelang ihm auch, die Einheit der auf mehr als 200 Seelen angewachsenen Kolonie durch die Annahme eines das äußere und innere Zusammenleben regelnden Statuts (12. Mai 1727) herzustellen. Der nun rasch zunehmende innere Zusammenschluß fand seinen höchsten Ausdruck in einer gemeinsamen Abendmahlsfeier in der Kirche zu Berthelsdorf 13. Aug. 1727 (Stiftungstag). Trotz ihrer besondern Gesellschafts- und Erbauungseinrichtungen, die sie als Erneuerung der altbrüderischen Disziplin beurteilte, wollte die junge Gemeine im Verbande der sächsischen Landeskirche verbleiben. Aber wachsende staatliche und kirchliche Feindschaft drängte mehr und mehr zu kirchlicher Verselbständigung, eine Entwickelung, der Zinzendorf nur äußerst widerstrebend, die Mähren unbedenklicher nachgaben. Die Übertragung der altbrüderischen Bischofsweihe auf einen der Mähren (1735) war der nächste Schritt dazu. Hand in Hand mit der Verselbständigung ging Ausbreitung, gefördert durch die Reisen des verbannten Grafen. Lutheraner, Reformierte und Sektierer schlossen sich den Brüdern an. Herzenschristentum und Gemeindisziplin sollte das Einheitsband dieser verschiedenen »Tropen« bilden; die Augsburgische Konfession wurde als allen Tropen angemessenstes Bekenntnis anerkannt. Dank dem erwachenden Kolonisationsstreben der Mächte entstanden weitere Niederlassungen der Brüder und erhielten staatliche Anerkennung (Preußen 1742, England, Sachsen 1749). Die Ausbildung einer festen Verfassung der Brüderunität war erst nach Zinzendorfs Tod unter Spangenbergs (s.d.) Leitung möglich (konstituierende Verfassungssynoden 1764,1769,1775). Auch wurde jetzt erst durch das Aufgeben Zinzendorfscher Paradoxien ein positives Verhältnis zur evangelischen Kirche erreicht (Spangenbergs »Idea fidei fratrum«, 1779).

Die Verfassung der B. ist durchaus synodal und presbyterial. Die Bischöfe haben mit dem Kirchenregiment nichts zu tun. Die Unität zerfällt in vier selbständige Unitätsgebiete, die deutsche, britische, amerikanische (nördliche und südliche Provinz) Brüderunität. Jedes Gebiet hat seine Synode und seine Behörde. Die Vertretung der deutschen Brüderunität ist die deutsche Unitätssynode, alle 3–4 Jahre tagend; oberste Verwaltungsbehörde ist die durch sie eingesetzte deutsche Unitätsdirektion mit dem Sitz Berthelsdorf. Die Vertretung der Gesamtheit ist die alle 10 Jahre zusammentretende Generalsynode. Die Gedanken des »Loses«, vermittelst dessen man bei wichtigen Entscheidungen den Willen des Heilandes zu erforschen suchte, und des »Spezialbundes«, der Christum verpflichtete, ganz besonders über der Gemeine und jeden Herrnhuter zu wachen, sind verfassungsmäßig und praktisch aufgegeben. In der Lehre hat die B. keine Eigentümlichkeit; die Betonung der persönlichen Erfahrung ermöglicht dogmatische Weitherzigkeit. Der Kultus trägt allgemein evangelischen Charakter, ist nur reicher ausgestaltet (Singstunden, Liturgien, Liebesmahle mit Tee und Backwerk, Feier des Ostermorgens auf dem Gottesacker). Dem Gemeinleben eignet eine besondere Disziplinierung. Eigentümlich ist ihm die Einteilung der Gemeine in »Chöre«, d. h. nach Alter, Geschlecht und Lebensverhältnis vereinigte Gruppen (Chor der Kinder, Knaben, Mädchen, ledigen Brüder, ledigen Schwestern, Verheirateten, Witwer und Witwen). Den Alleinstehenden unter ihnen stehen »Chorhäuser« offen, die ihnen ein Zusammenwohnen ermöglichen (Brüder-, Schwestern-, auch Witwenhäuser).

Der Einfluß der B. auf das christliche Leben ist in anbetracht ihrer Kleinheit nicht gering; die »Täglichen Losungen und Lehrtexte« sind weit verbreitet (über 115,000 deutsche Exemplare, außerdem französische, englische, dänische u. a.), ebenso ihre Lieder. Durch Schleiermacher, der bei den Herrnhutern empfangene Eindrücke bewahrt hat, ist ein berechtigtes Element bleibend in die deutsche Theologie aufgenommen worden. Bedeutsam ist das Erziehungs- und Diaspora werk, großartig die Wirksamkeit der B. für die Ausbreitung des Christentums unter den Heiden. Die Missionstätigkeit begann fast unmittelbar nach Stiftung der Gemeine (St. Thomas 1732, Grönland 1733). Gegenwärtig hat sie Missionsstationen in Labrador, Alaska, Kanada, Kalifornien, Westindien, Nicaragua, Demerara, Suriname, Süd- und Ostafrika. Himalaja, Australien. In Deutschland befinden sich Brüdergemeinen an folgenden Orten: Herrnhut, Kleinwelka, Niesky (Pädagogium), Gnadenberg, Gnadenfrei, Gnadenfeld (theologisches Seminar), Neusalz a. O., Berlin, Rixdorf, Gnadau, Neudietendorf, Ebersdorf, Königsfeld, Neuwied, Christiansfeld. Die Gesamtzahl der Mitglieder der B. betrug 1903: 39,280, wozu 89,257 Heidenchristen und ca. 90,000 Pfleglinge auf den Gebieten der äußern und innern Mission kamen. Vgl. Cranz, Alte und neue Brüderhistorie (Barby 1771; fortgesetzt von Hegner, 3 Bde., das. 1791,1804, Gnadau 1816); Cröger, Geschichte der erneuerten Brüderkirche (das. 1852–54, 3 Bde.); Burkhardt, Die B. (das. 1893–97, 2 Tle.); »Kirchenordnung der Evangelischen Brüderunität in Deutschland vom Jahre 1901« (das.); »Brüderkalender. Statistisches Jahrbuch der evangelischen Brüderkirche und ihrer Werke« (Niesky); Schulze, Abriß einer Geschichte der Brüdermission (Herrnh. 1901). S. auch die Literatur beim Art. »Zinzendorf«.


http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.

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