- Syrakūs [2]
Syrakūs (Siracusa), Hauptstadt der gleichnamigen ital. Provinz (s. oben), liegt auf der mit dem Festlande durch einen Damm verbundenen Insel Ortygia, an der Eisenbahnlinie Catania-S.-Licata, ist durch Mauern und Gräben und durch ein Kastell (11.–13. Jahrh.) befestigt und hat einen Umfang von 4 km (gegen 33 km Umfang des antiken S.). Der große Hafen (Porto Grande) umfaßt die Bucht zwischen der Insel Ortygia und dem Vorgebirge Plemmyrion (Massolivieri) und nimmt den Fluß Anapo auf. Er hat eine Fläche von 232 Hektar, ist bei einer Tiefe von 10–20 m für die Aufnahme der größten Flotte geeignet und durch zwei Leuchttürme bezeichnet. Der kleine Hafen (Porto Piccolo) im N. hat eine Wassertiefe von nur 2–3 m. Das Klima von S. ist sehr günstig, namentlich für an den Respirationsorganen Leidende; die mittlere Jahrestemperatur beträgt 18,2, im Januar 11,3, im Juli 26°, die jährliche Regenmenge (an 57 Tagen) nur 412 mm. Unter den Bauten der Stadt sind hervorzuheben: das Kastell Maniace (13. Jahrh.), der Dom Santa Maria del Piliero (in die Säulen eines dorischen Tempels der Minerva eingebaut), mehrere Kirchen des 15. Jahrh., der erzbischöfliche Palast (16. Jahrh.), der Palazzo Communale (17. Jahrh.), der Neubau des Museums, das schöne Theater und mehrere mittelalterliche Privatpaläste. S. hat ein Lyzeum, Gymnasium, Technisches Institut, eine Technische und eine Kunstgewerbeschule, Seminar, archäologisches Museum (mit zahlreichen Skulpturen, darunter eine Statue der Venus und ein kolossaler Kopf des Neptun, ferner Vasen, keramische Gegenstände, Inschriften, Münzen etc.), Bibliothek (12,000 Bände), Filiale der Nationalbank, mehrere selbständige Banken, Handelskammer, Fabrikation von Tonwaren, Essenzen, Öl, Teigwaren, Konserven und Seilerwaren, Steinbrüche, lebhaften Handel (besonders mit Öl, Wein, Südfrüchten etc.), elektrische Beleuchtung und (1901) 23,247 (als Gemeinde 32,030) Einw. S. hat Dampferverbindung mit Malta. Im Hafen liefen 1904: 1357 handelstätige Schiffe von 490,876 Ton. ein. Die Einfuhr zur See betrug 31,612, die Ausfuhr 78,922 T. S. ist Sitz des Präfekten, eines Erzbischofs, eines Zivil- und Strafgerichts, eines Assisenhofs etc. sowie mehrerer Konsuln (darunter auch ein deutscher). Von der antiken Stadt sind nicht unbedeutende Reste erhalten, so: Überbleibsel von drei dorischen Tempeln, Aquädukte, Reste der Stadtmauer und des Arsenals, die Ara Hierons II., die Trümmer der Bergfeste Euryalos, große Steinbrüche, darunter die Latomia del Paradiso mit dem »Ohr des Dionysios«, einer durch eigentümliche Akustik ausgezeichneten Grotte; das griechische Theater aus dem 5. Jahrh. (150 m im Durchmesser); Zisternen, Gräber, Straßen, ein griechisches Theater, ein römisches Amphitheater aus der Zeit des Augustus; die Arethusaquelle etc. Aus altchristlicher Zeit haben sich ausgedehnte Katakomben erhalten, aus dem Mittelalter und der Renaissancezeit verschiedene Kirchen und Paläste. Die Villa Landolina enthält schöne Gartenanlagen und das Grab des Dichters Platen. An dem zum Anapo gehenden Flüßchen Kyane gedeiht die Papyrusstaude. Vgl. den Stadtplan, S. 250.
Geschichte. S. (Syracusae), im Altertum die größte und reichste Stadt Siziliens, 734 v. Chr. durch Korinther auf der hart vor der Küste gelegenen Insel Ortygia gegründet, von wo sich die Stadt später über das Festland ausbreitete. Zur Zeit ihrer größten Ausdehnung, da sie über 500,000 Einw. zählte, bestand sie aus fünf Hauptteilen: der Insel Ortygia (Nasos) mit der Quelle Arethusa, den Tempeln der Artemis und Athene, den großen Getreidemagazinen und dem von Hieron erbauten Palast (zwischen Ortygia und dem Festlande lag die von Dionysios I. erbaute Akropolis); der 66 m hoch ansteigenden Halbinsel Achradina mit der von Säulengängen umgebenen Agora, dem Prytaneion etc.; Tyche, dem an den nördlichen Teil von Achradina westlich anstoßenden, volkreichsten Teil der Stadt; Neapolis, auf der Südwestseite von Achradina, mit dem Haupttheater und Tempeln der Demeter, Kora etc.; Epipolä, einer die ganze Stadt beherrschenden Höhe nordwestlich von Neapolis, die Dionysios I. mit einer starken Mauer umgeben ließ und in den Bereich der die Stadt umgebenden Befestigungen zog. Neapolis und Achradina enthielten große Steinbrüche (Latomien), die tief in die Erde gingen und als Gefängnisse benutzt wurden. S. besaß zwei treffliche Häfen, einen kleinern (Lakkios) im N. von Ortygia und einen größern im W. der Insel. Südlich von S., in der Nähe der Quelle Kyane, lagen das Olympieion und der Hafenort Daskon.
S. war eine dorische Niederlassung, 734 v. Chr. von den Korinthern auf Ortygia gegründet und nach der sumpfigen Ebene Syrako, westlich vom großen Hafen, benannt. Wiewohl nicht die älteste griechische Kolonie auf der Insel, wurde sie doch bald die bedeutendste und gründete selbst neue Niederlassungen auf Sizilien (Akrä, Kasmenä, Kamarina u. a.). Ihre Verfassung war aristokratisch, indem die Gamoren, d. h. die Großgrundbesitzer, die Regierung in den Händen hatten. Zu Ende des 6. Jahrh. wurde diese Aristokratie von der demokratischen Partei gestürzt; die Vertriebenen riefen die Hilfe des Gelon (s. d.), Tyrannen von Gela, an, der die Gamoren nach S. zurückführte, aber die Gelegenheit benutzte, um sich selbst 485 der Herrschaft zu bemächtigen. Unter ihm erreichte S. seine höchste Blüte, seine Flotten beherrschten die umliegenden Meere, und die meisten Städte Siziliens standen unter seinem Einfluß.
Namentlich sein Sieg über die Karthager bei Himera 480 machte S. zur mächtigsten Stadt Siziliens. Er verband die Neustadt auf dem Felsplateau Achradina mit Ortygia durch einen Damm und umgab das Ganze mit einer kolossalen Mauer, außerhalb der die Vorstädte Tyche, Neapolis und Epipolä entstanden. Auf Gelon folgte sein Bruder Hieron I. (478–467) und auf diesen der dritte Bruder Thrasybulos, der aber schon 466 vertrieben ward. An die Stelle der Tyrannis trat jetzt eine demokratische Verfassung. Zur Sicherstellung der Demokratie ward eine dem athenischen Ostrakismos ähnliche Maßregel in dem Petalismos (»Blättergericht«, weil mit beschriebenen Olivenblättern abgestimmt wurde) eingeführt, aber bald wieder aufgehoben. Indem S. versuchte, seine Vorherrschaft über die Insel auch jetzt aufrecht zu erhalten, suchten 427 die von ihm bedrängten Leontiner und 416 die von S. und seinem Bundesgenossen Selinunt mit Krieg überzogenen Segestäer Unterstützung bei den Athenern nach. Diese sandten 415 eine große Flotte unter Nikias und Lamachos nach Sizilien (sizilische Expedition der Athener 415–413). Die Athener eroberten 414 die Vorstadt Epipolä und hatten S. auf der Landseite schon beinahe eingeschlossen, als nach dem Tode des Lamachos der Spartaner Gylippos ihre Verschanzungen durchbrach und die Vollendung der Einschließung verhinderte. Unter Führung des Gylippos und des Hermokrates schufen sich die Syrakusier eine Flotte, entrissen den Athenern ihre befestigte Stellung auf dem Vorgebirge Plemmyrion, Ortygia gegenüber, und brachten ihnen in einer Seeschlacht 413 eine Niederlage bei. Durch Demosthenes verstärkt, versuchten die Athener einen nächtlichen Angriff auf Epipolä, der mißlang, lieferten den Syrakusiern, um die Ausfahrt aus dem Hafen zu erzwingen, eine unglückliche Seeschlacht und wurden auf dem Abzug zu Lande vernichtet. 7000 Gefangene wurden in die Latomien auf Achradina geworfen, wo viele von ihnen verschmachteten, Nikias und Demosthenes wurden hingerichtet. Trotz der Erfolge des Hermokrates gelang es 410 der demokratischen Partei in S., ihn zu stürzen; bei einem Versuch, seine Stellung wiederzugewinnen, kam er 407 um. Um die seit 409 wieder aufgenommene Eroberungspolitik der Karthager abzuwehren, übertrug das Volk dem tapfern Dionysios I. (s. d.) das Oberkommando über die Armee, bahnte ihm aber dadurch den Weg;mr Tyrannis (406). Dionysios beschränkte die Karthager auf den westlichen Teil Siziliens und befestigte die Herrschaft von S. über die Osthälfte der Insel und einen Teil Unteritaliens. Durch den Bau einer gewaltigen Quadermauer, die auch die Vorstädte Tycha und Epipolä umfaßte, vollendete er die Festungswerke der Stadt, die jetzt an Ausdehnung und Bevölkerung in Europa ihresgleichen nicht hatte. Die wohlbefestigte Regierung übernahm nach ihm 367 sein Sohn Dionysios II., der wüsten Ausschweifungen ergeben war. Er wurde 357 von Dion vertrieben, kehrte zwar 346 zurück, wurde aber 343 von dem edlen Timoleon genötigt, seine Herrschaft niederzulegen. Letzterer zerstörte die Burg der Tyrannen, stellte die demokratische Verfassung wieder her und zog durch Häuser- und Äckerverteilung an 60,000 neue Ansiedler in die entvölkerte Stadt. Die nach seinem Tode (336) entstandenen Unruhen benutzte Agathokles (s. d.), um sich unter der Verheißung einer reinen Demokratie zum Tyrannen aufzuwerfen (317). Seine strenge und grausame Regierung sicherte die Ruhe im Innern, wodurch es möglich wurde, daß sich S. gegen die in Sizilien immer weiter fortschreitenden Karthager behauptete. Nach Agathokles' Tode (289) suchte sich Mänon, der ihn ermordet hatte, zum Herrscher aufzuwerfen, ward aber von Hiketas vertrieben, der sich neun Jahre lang (288–279) behauptete. Nach seinem Sturz riefen die Syrakusier gegen die Angriffe der Karthager den damals in Italien kriegführenden Pyrrhos (277) herbei, der die Stadt entsetzte, seinen Plan, ganz Sizilien zu unterwerfen, aber nicht dauernd verwirklichen konnte und 276 wieder abzog Darauf wählten (275) die Syrakusier Hieron II. zu ihrem Feldherrn und 269 zum König. Dieser hielt im ersten und zweiten Punischen Kriege zu den Römern und sicherte sich dadurch die Herrschaft im östlichen Teil der Insel. Sein Enkel und Nachfolger (seit 216) Hieronymos trat dagegen auf die Seite der Karthager und führte dadurch seinen Sturz (215) und den Untergang der Selbständigkeit von S. herbei, das 212 nach tapferer Verteidigung durch Archimedes von Marcellus erobert wurde. Seitdem gehörte S. zur römischen Provinz Sizilien. Der alte Glanz der Stadt verschwand, und die Bevölkerung nahm immer mehr ab. Vergebens suchte sie Augustus durch eine Kolonie zu heben. Im Mittelalter und in der Neuzeit teilte die Stadt die Geschicke der Insel, ohne eine bedeutendere Rolle zu spielen. Vgl. Privitera, Storia di Siracusa antica e moderna (Neap. 1879, 2 Bde.); Cavallari und Holm, Topografia archeologica di Siracusa (Palermo 1884; deutsch bearbeitet von Lupus, Straßb. 1887); Lübbert, S. zur Zeit des Gelon und Hieron (Kiel 1875); Diehl, Syracuse (in der Sammlung »Les villes d'art«, Par. 1907), und die Geschichtsliteratur bei Artikel »Sizilien«, S. 511.
http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.