- Speiseverbote
Speiseverbote, bei einem großen Teile der Menschheit vorhandene Bestimmungen und Einrichtungen, nach denen ganze Völker, oder bestimmte Sippen, oder Einzelne bestimmte Nahrungsmittel andauernd oder zu gewissen Zeiten nicht genießen dürfen. Derartige S. sind häufig durch Aberglauben hervorgerufen und treffen dann beide Geschlechter; in vielen andern Fällen sind sie auf das Weib, vor allem das schwangere, beschränkt. Reste davon finden wir auch noch in Europa. So darf die schwangere Serbin kein Hasenfleisch essen, sonst wird das Kind mit offenen Augen schlafen oder schielen. Ißt sie Schnecken, so wird das Kind immerfort schleimig sein; ißt sie viele Fische, so wird es lange stumm bleiben, u. s. s. In die Kategorie der S. gehört auch das Tabu (s. d.). Von den religiösen Verboten kommen die der Juden. Mohammedaner und Hindu in Betracht. Das religiöse Motiv ist wohl das Ergebnis einer langen Entwickelung, in der die ursprünglichen Beweggründe meist gänzlich verwischt sind. Auch ein Teil der jüdischen Speisegesetze ist totemistischen Ursprungs (s. Totem), und die ägyptischen S. sind durch den dortigen alten Gau-Totemismus ins Leben gerufen worden. Bei Hirtenvölkern werden die Tiere ihrer Herden leicht Gegenstand der S. Beispiele einer ständigen Schonung, wenigstens durch den Besitzer, und der gänzlichen oder teilweisen Entsagung des Genusses von Fleisch, Milch, Eiern etc. finden sich allerorten (Hindu, Dinka, Herero, Toda etc.). Eine Weiterbildung findet dann den Tieren gegenüber statt, die dem Menschen als Zug-, Jagd- und Wachttier nähertreten, mit ihm sozusagen befreundet werden. Daher der Widerwille gegen das Fleisch von Hund und Pferd, bei andern Völkern gegen das von Affen, bei den Griechen und Römern, den Chinesen und Birmanen gegen das des Pflugstiers. Bei den Kaffern wird das Fleisch des Elefanten vermieden, weil dieses Tier dem Menschen wegen seiner Klugheit zu nahe stehe. Auch das Zurückgehen des Kannibalismus wird mit der Zunahme der friedlichen Berührung unter den einzelnen Menschengruppen begründet. Sehr allgemein ist der Genuß der Schlangen verboten, weil man sie für ebenso gefährlich erachtet wie ihren Biß; sodann der den Schlangen an Gestalt ähnlicher Fische; endlich der Genuß der Eier, die von vielen Völkern für Exkremente gehalten und daher verabscheut werden. Die vom mosaischen und talmudischen Gesetz gegebenen Vorschriften hinsichtlich der Nahrungsmittel bezwecken die Reinheit und durch diese die Heiligkeit der Israeliten. Der Pentateuch gibt 3. Mos. 11 und 5. Mos. 14 als reine, zum Genuß erlaubte Tiere an: 1) von den Vierfüßern die, die gespaltene Klauen haben und wiederkäuen, 2) von den Wassertieren nur die Fische, die Schuppen und Floßfedern haben, verbietet dagegen die Raubvögel und Kriechtiere. Von Insekten ward die Heuschrecke gegessen. Verboten ist der Blutgenuß, der Gebrauch des für den Altar bestimmten Opferfettes, die Vermischung von Fleisch mit Milch oder Butter (gegründet auf die Pentateuchstellen 2. Mos. 23,19; 34,26 und 5. Mos. 14,21: »Du sollst das Lämmlein nicht in der Mutter Milch kochen«). der Genuß von Körperteilen eines noch lebenden Tieres. Die Hinterviertel der Vierfüßer dürfen erst genossen werden, nachdem die Spannader daraus entfernt ist (1. Mos. 32,32). Säugetiere und Vögel müssen nach besonderm Ritus (s. Schächten) geschlachtet, ihr Fleisch muß vor dem Gebrauch zur Entfernung des Blutes entadert (geporscht, getriebert), in Wasser gelegt und gesalzen (koscher gemacht) werden. Von neugeerntetem Getreide durfte vor Ablauf des Tages, an dem ein Omer (Mäßchen) Gerste von derselben Ernte im Tempel geweiht worden, nichts genossen werden. Verboten war auch der Genuß von Fruchtgattungen, die vermischt gepflanzt worden waren, von allen Früchten, die ein Baum in den ersten drei Jahren trug, von Wein, der den Götzenbildern als Opfer dargebracht worden war, und vom gesäuerten Brot während des Passahfestes. Alle diese Speisegesetze waren bei den Talmudisten Gegenstand einer sehr komplizierten Kasuistik. Das apostolische Speisegesetz (Apostelgesch. 15,29) verbot den Heidenchristen, wo sie mit Judenchristen zusammenwohnten, den Genuß von Götzenopferfleisch, Blut und Ersticktem; es erhielt sich bis tief ins Mittelalter. Noch heute verbietet die katholische Kirche Fleischgenuß, teilweise auch den Genuß von Eier- und Milchspeisen an den Abstinenztagen, wobei aber sämtliche Fische und der Fischotter nicht als Fleisch betrachtet werden (vgl. Fasten). Der Koran verbietet den Mohammedanern den Genuß von Blut, Schweinefleisch und Fleisch gestorbener Tiere, auch Wein. Vgl. Andree, Ethnographische Parallelen und Vergleiche (Stuttg. 1878); Schurtz, Die S. (Hamb. 1893); Haberland, Über Gebräuche und Aberglauben beim Essen (in der »Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft«, Bd. 17 u. 18, Berl. 1887 u. 1888); Wiener, Die jüdischen Speisegesetze (Bresl. 1895); Böckenhoff, Das apostolische Speisegesetz in den ersten fünf Jahrhunderten (Paderb. 1903).
http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.