Sittlichkeitsverbrechen

Sittlichkeitsverbrechen

Sittlichkeitsverbrechen (Unzuchtsdelikte, Fleischesverbrechen, Delicta carnis), strafbare Handlungen, die in einer gesetzwidrigen Befriedigung des Geschlechtstriebes bestehen. Das ältere Recht betrachtete den außerehelichen Geschlechtsverkehr (Hurerei, Fornikation) überhaupt als strafbar, wenigstens insofern er mit einer sonst ehrbaren Frauensperson gepflogen wurde, daher denn auch die freiwillige, außereheliche Schwächung (stuprum voluntarium) nach dem römischen Recht nicht nur an der Geschwächten, sondern auch an dem Stuprätor gestraft und im Mittelalter, nachdem die Geistlichkeit dies Delikt vor ihr Forum gezogen hatte, an der gefallenen Frauensperson durch die Strafe der öffentlichen Kirchenbuße geahndet wurde. Das moderne Strafrecht erachtet den außerehelichen Geschlechtsverkehr an und für sich nicht mehr als strafbar. Das deutsche Reichsstrafgesetzbuch insbes. bestraft Weibspersonen, die gewerbsmäßig Unzucht treiben, nur dann mit Strafe (Haft bis zu 6 Wochen), wenn sie unter polizeiliche Aussicht gestellt sind und den in dieser Hinsicht zur Sicherung der Gesundheit, der öffentlichen Ordnung und des öffentlichen Anstandes erlassenen polizeilichen Vorschriften zuwiderhandeln, oder wenn sie gewerbsmäßige Unzucht treiben, ohne einer solchen Aussicht unterstellt zu sein. Dagegen werden im deutschen Strafgesetzbuch folgende unsittliche Handlungen als Unzuchtsverbrechen behandelt und bestraft: 1) Blutschande (s. d.), d. h. der Beischlaf zwischen nahe verwandten oder verschwägerten Personen; 2) Notzucht (stuprum violentum), d. h. die Nötigung einer Frauensperson zur Duldung des außerehelichen Beischlafs durch Gewalt oder durch Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben, die Strafe beträgt (nach Strafgesetzbuch, § 177, 178) Zuchthaus bis zu 15 Jahren, bei mildernden Umständen Gefängnis nicht unter einem Jahre; wenn der Tod der Verletzten verursacht worden ist, Zuchthaus nicht unter 10 Jahren oder lebenslanges Zuchthaus; 3) Schändung (stuprum non voluntarium nec violentum), d. h. der außereheliche Bei schlaf mit einer geisteskranken oder einer in willen- oder bewußtlosem Zustand befindlichen Frauensperson, die Strafe beträgt (Strafgesetzbuch, § 176, Ziffer 2) Zuchthaus bis zu 10 Jahren, bei mildernden Umständen Gefängnis nicht unter 6 Monaten. Die Strafen der Notzucht treten ein, wenn der Täler die Frauensperson absichtlich in diesen Zustand versetzt hat. 4) Unzüchtige Handlungen, die Vormünder mit ihren Pflegebefohlenen, Eltern mit ihren Kindern, Geistliche, Lehrer und Erzieher mit ihren minderjährigen Schülern oder Zöglingen; Beamte mit Personen, gegen die sie eine Untersuchung zu führen haben, oder die ihrer Obhut anvertraut sind; Beamte, Ärzte und andre Medizinalpersonen, die in Gefängnissen oder in öffentlichen, zur Pflege von Kranken, Armen oder andern Hilflosen bestimmten Anstalten beschäftigt oder angestellt sind, mit den hier aufgenommenen Personen vornehmen. Die Strafe beträgt (Strafgesetzbuch, § 174) Zuchthaus bis zu 5 Jahren, bei mildernden Umständen Gefängnis nicht unter 6 Monaten. 5) Unzüchtige Handlungen, die mit Gewalt an einer Frauensperson vorgenommen werden, oder zu deren Duldung diese durch Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben genötigt wird; unzüchtige Handlungen mit Personen unter 14 Jahren. Die Strafe (Strafgesetzbuch, § 176, Ziffer 1 und 3) beträgt Zuchthaus bis zu 10 Jahren, bei mildernden Umständen Gefängnis nicht unter 6 Monaten; 6) die Ehedelikte und zwar a) der Ehebruch (s. d.), b) der Ehebetrug (s. d.) oder die Eheerschleichung, c) die Doppelehe oder Bigamie (s. d.); 7) die widernatürliche Unzucht, sei es zwischen Menichen und Tieren (Sodomie), sei es zwischen Personen männlichen Geschlechts (Päderastie); die Strafe ist (Strafgesetzbuch, § 175) Gefängnis, neben dem auf Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte erkannt werden kann (vgl. Homosexualität und Sexualpsychologie). Straflos bleibt dagegen die widernatürliche Unzucht zwischen Frauen (lesbische Liebe, Tribadie), zwischen Mann und Weib sowie die einseitige oder gegenseitige Manustupration (s. Onanie); 8) die Erschleichung des Beischlafes, d. h. die Verleitung einer Frauensperson zur Gestattung des Beischlafs durch Vorspiegelung einer Trauung oder durch Erregung oder Benutzung eines andern Irrtums, in dem sie den Beischlaf für einen ehelichen hält (Antragsdelikt), Strafe (§ 179). wie unter 4; 9) die Verführung eines unbescholtenen Mädchens, welches das 16. Lebensjahr noch nicht vollendet hat, zum Beischlaf (Antragsdelikt), Strafe (Strafgesetzbuch, § 182): Gefängnis bis zu einem Jahre; 10) die Verletzung der Sittlichkeit a) durch unzüchtige Handlungen, durch die ein öffentliches Ärgernis gegeben wird (Strafe nach § 183 Gefängnis bis zu 2 Jahren oder Geldstrafe bis zu 500 Mk.), oder b) durch unzüchtige Schriften, Abbildungen oder Darstellungen, die feilgehalten, verkauft, verteilt oder sonst verbreitet oder an Orten, die dem Publikum zugänglich sind, ausgestellt oder angeschlagen werden, Strafe (nach § 184): Geldstrafe bis zu 1000 Mk. oder Gefängnis bis zu 1 Jahr. Neben Gefängnis kann auch auf Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte und Stellung unter Polizeiaufsicht erkannt werden. Der gleichen Strafe verfällt, wer solche Schriften etc. zum Zwecke der Verbreitung herstellt oder vorrätig hält, ankündigt oder anpreist, sie Personen unter 16 Jahren gegen Entgelt überläßt oder anbietet, wer zum unzüchtigen Gebrauch bestimmte Gegenstände öffentlich ausstellt, ankündigt oder anpreist, endlich wer zwecks Herbeiführung eines unzüchtigen Verkehrs öffentliche Ankündigungen erläßt. Mit Geldstrafe bis zu 300 Mk. oder mit Gefängnis bis zu 6 Monaten wird nach § 184 b bestraft, wer aus Gerichtsverhandlungen, für die wegen Gefährdung der Sittlichkeit die Öffentlichkeit ausgeschlossen war, oder aus den diesen Verhandlungen zugrunde liegenden amtlichen Schriftstücken öffentlich Mitteilungen macht, die geeignet sind, Ärgernis zu erregen. Mit Gefängnis bis zu 6 Monaten oder einer Geldstrafe bis zu 600 Mk. wird bestraft, wer Personen unter 16 Jahren Schriften, Abbildungen oder Darstellungen, die das Schamgefühl gröblich verletzen, gegen Entgelt überläßt oder anbietet (§ 184 a). Auch die Kuppelei (s. d.) und Zuhälterei (s. Kuppelei) wird unter den S. mit ausgeführt, nicht aber die Entführung (s. d.). Vgl. Deutsches Strafgesetzbuch, § 171–184,361, Nr. 6; Österreichisches, § 125 ff., 500 ff., und Weisbrod, Die Sittlichkeitsverbrechen vor dem Gesetz (Berl. 1891); Hatzipetros, Begriff der unzüchtigen Schrift und ihrer Verbreitung (Guben 1896); Puglia, Dei delitti di libidine (2. Aufl., Neap. 1898); Quanter, Die S. im Laufe der Jahrhunderte (Berl. 1904).


http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.

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