Mnēmē

Mnēmē

Mnēmē (griech.), eigentlich Gedächtnis, von Semon eingeführt als Bezeichnung für den Gesamtbestand eines Organismus an dauernden, durch Reize bewirkten Veränderungen, die den Erscheinungen des Gedächtnisses, der Assoziation, Vererbung etc. zugrunde liegen. Nachdem Hering (1870) in einem in der Wiener Akademie der Wissenschaften gehaltenen Vortrag: »Über das Gedächtnis als eine allgemeine Funktion der organischen Materie«, zum erstenmal in präziser Form den Gedanken zum Ausdruck gebracht hatte, daß zwischen dem Gedächtnis einerseits und den Vorgängen der Übung und der Vererbung anderseits eine weitgehende Analogie bestehe, führte Semon (1904) diese Anschauung auf breiterer Grundlage weiter aus. Er bezeichnet als Grundlage der Gedächtnisvorgänge bleibende Veränderungen unbekannter Art, die durch Reize im Organismus hervorgerufen wurden. Diese Veränderungen bezeichnet er als Engramme, die Gesamtheit aller vom Organismus teils ererbter, teils individuell erworbener Engramme als die M. des Organismus. Die durch diese Engramme bedingte Änderung besteht darin, daß dieselbe Wirkung, die ursprünglich durch den engraphisch wirkenden Originalreiz hervorgerufen wurde, in Zukunft schon von einem schwächern oder qualitativ etwas veränderten Reiz hervorgebracht werden kann. Hierher gehört die Schärfung der Sinne durch Übung, das Wiedererkennen einer Landschaft nach einer flüchtigen Bleistiftskizze, die Erinnerung an eine Orchesteraufführung durch eine gesungene Melodie u.a. Es gehört hierher aber auch die Tatsache, daß Tiere und Pflanzen verschiedenster Art bei häufiger Wiederholung ein und desselben Reizes stärker auf dieselben reagieren, und daß sie gegen immer schwächere Reize sich empfindlich zeigen. Diese Summierung der Reizwirkung erklärt Semon dadurch, daß neben der durch den neuen Reiz bedingten Erregung auch der durch den engraphischen Originalreiz bedingte Erregungszustand von neuem ausgelöst (ekphoriert) wird. Ost genügt die Wiederkehr eines einzelnen Reizes, um eine ganze Reihe von früher stattgehabten Reizwirkungen wieder zur Auslösung zu bringen; ein Geruch, eine Melodie, der Anblick eines Gegenstandes, einer Landschaft u.a. ruft uns die ganze Situation ins Gedächtnis, in der wir uns bei der ersten Einwirkung desselben oder eines ähnlichen Reizes befanden; ein Stichwort läßt uns ein Gedicht, ein Ton oder eine kurze Tonfolge ein ganzes Musikstück, das lange unserm Gedächtnis entschwunden war, reproduzieren (simultane, bez. sukzessive Assoziation). Auf das Nebeneinanderwirken eines neuen, originalen und eines ältern, engraphischen Reizes, das er als Homophonie bezeichnet, führt Semon auch die Tatsache zurück, daß wir Unterschiede zwischen der neuern und der ältern Reizwirkung genau erkennen. Diese Erkenntnis kann Reaktionen unserseits hervorrufen, die eine Beseitigung dieser Inkongruenz zur Folge haben, z. B. wenn wir die fehlerhafte Wiedergabe eines Gedichtes, eines Tonsatzes, die falsche Abbildung eines uns bekannten Gegenstandes berichtigen. Semon vertritt nun den Gedanken, daß all diese in unserm Gedächtnis und zum Teil auch dem der höhern Tiere zu beobachtenden Vorgänge eine weitgehende Übereinstimmung sowohl mit den Entwickelungsvorgängen als auch mit zahlreichen andern in den Organismen ablaufenden Prozessen zeigen. Er nimmt an, daß jeder Reiz zunächst auf eine bestimmte Sphäre des Organismus einwirkt, die er als den primären Eigenbezirk des Reizes bezeichnet, daß er aber darüber hinaus, in abgeschwächter Form auch alle übrigen Teile des Körpers, also auch die Keimzellen, engraphisch beeinflußt. Diese Einwirkung ist in der Regel so gering, daß sie erst nach häufiger Wiederholung ein und desselben Reizes eine Stärke erlangt, die ihre Ekphorierbarkeit auch in der folgenden Generation möglich macht. Durch solche fortgesetzte Wiederholung wird aber eine Vererbung von individuell erworbenen Engrammen auf die folgende Generation möglich. Jede Keimzelle muß sich im Besitz der gesamten ererbten M. befinden. Bei gewissen niedern Tieren gilt dies auch für beliebige Körperteile, da sie imstande sind, aus einem kleinen Bruchstück den ganzen Körper zu regenerieren. In den Erscheinungen der Regulation und Regeneration sieht Verfasser Vorgänge, die durchaus den Reaktionen zur Beseitigung der Inkongruenz bei der Homophonie zweier Erregungen (s. oben) entsprechen. Im Gegensatz zu der umbildenden Einwirkung äußerer Einflüsse sieht Semon in der M. die Erhalterin dieser Veränderungen in der Flucht der Erscheinungen, soweit dieselben nicht durch die Wirkung der natürlichen Auslese (s. Darwinismus) wieder ausgemerzt werden. Vgl. Semon, Die M. als erhaltendes Prinzip im Wechsel des organischen Lebens (Leipz. 1904).


http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.

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