- Historische Geographie
Historische Geographie. Das Wiederaufleben der klassischen Studien im 15. und 16. Jahrh. führte, da die geographischen Schriften der Alten selbst zum vollen Verständnis der antiken Autoren, besonders der Geschichtschreiber, nicht ausreichten, bald dazu, alle bezüglichen Nachrichten aus dem ganzen Umfang der alten Literatur zu sammeln und miteinander und mit der vorhandenen Kenntnis der betreffenden Länder zu vergleichen. So entstand eine neue, zunächst rein philologische Disziplin, die alte Geographie, welche die wirklichen Verhältnisse der zu behandelnden Länder, besonders des Orients, wenig berücksichtigte. Die ersten Ansätze zu einer historischen Geographie finden sich bereits in Sebastian Münsters (1489–1552) »Cosmographia« von 1544. Grundlegend aber und noch heute von Wert sind die auf eigner ausgedehnter Durchwanderung, besonders von Italien und Sizilien, beruhenden Werke des Philipp Clüver (1580–1622) aus Danzig, während die dann folgenden Arbeiten eines Palmerius, Cellarius (1638–1707) und andrer ganz veraltet sind. Als Reformator der alten und neuen Kartographie gilt der Pariser Bourguignon d'Anville (1697–1782), dessen Kartenwerke jetzt freilich einen lange überwundenen Standpunkt bezeichnen, aber ebenso wie seine Schriften von grundlegender Bedeutung gewesen sind. Sein Zeitgenosse Fréret (1688–1749) ist der erste, der die Geschichte der Geographie und die alte Ethnographie bearbeitete. Als dritter schließt sich ihnen Gosselin (1751–1830) mit seinen Werken »Géographie des Grecs analysée« und »Recherches sur la géographie des anciens« an. Im 19. Jahrh. beteiligten sich wieder vornehmlich deutsche Gelehrte an der Pflege dieser Disziplin, wie Konrad Mannert, dessen zehnbändige »Geographie der Griechen und Römer« (Nürnb. 1795–1825) noch immer Wert besitzt; dann F. A. Ukert, von dessen sorgfältig und mit reicherm Material ausgearbeiteter »Geographie der Griechen und Römer« (Weim. 1816–46) nur drei Teile, die außer der Einleitung West- und Nordeuropa und Skythien enthalten, erschienen sind Albert Forbigers fleißig, aber mehr von philologischem als geographischem Standpunkt gearbeitetes »Handbuch der alten Geographie« (1842–48, 3 Bde.; Bd. 3 als »Handbuch der alten Geographie von Europa«, 2. umgearbeitete Aufl. 1877) leidet an planloser Zerteilung des Stoffes und vielen falschen Zitaten. Ein den heutigen Anforderungen entsprechendes umfassendes Werk überalte Geographie gibt es nicht; in kurzer Fassung ist das neueste und beste H. Kieperts »Lehrbuch der alten Geographie« (Berl. 1878). W. Smiths »Dictionary of Greek and Roman Geography« (Lond. 1854, 2 Bde.) ist in seinen einzelnen, von verschiedenen Autoren herrührenden Artikeln von sehr ungleichem Wert und z. T. veraltet. Besseres bietet die seit 1893 im Erscheinen begriffene neue Auflage von Pauly-Wissowas »Realenzyklopädie der klassischen Altertumswissenschaft«. Vgl. Tozer, A history of ancient geography (Lond. 1897).
Von Spezialwerken über einzelne Länder der Alten Welt nennen wir hier nur eine kleine Auswahl, meist neuern Ursprungs, wobei zu bemerken ist, daß die lokale Schriftstellerei über Fragen der alten Geographie, besonders in England, Frankreich, Italien und auch Griechenland, einen ganz gewaltigen Umfang angenommen hat. Für Britannien (s. d.) sind die beiden noch unersetzten Hauptwerke Camdens »Britannia« (1586) und Horsleys »Britannia Romana« (1732); für Gallien (s. d.) ist noch immer d 'Anvilles grundlegende »Notice de la Gaule ancienne« (1760) von Wert, dann Walckenaers »Géographie ancienne historique et comparée des Gaules« (1839) und Desjardins' vierbändige, aber unvollendete »Géographie historique et administrative de la Gaule romaine« (1876–93); Hispanien dagegen entbehrt noch einer zusammenfassenden Behandlung, ebenso wie die gesamten Donauländer. Für Italien sind H. Nissens »Italische Landeskunde« (Bd. 1: »Land und Leute«, Berl. 1883; Bd. 2: »Die Städte«, 1902 f.), dann A. Bormanns »Altlatinische Chorographie und Städtegeschichte« (Halle 1852), Abekens »Mittelitalien vor den Zeiten römischer Herrschaft« (Stuttg. 1843) und J. Belochs »Kampanien« (Berl. 1879; 2. vermehrte Ausg., Bresl. 1890) zu nennen. Besser ist für Griechenlands Kenntnis gesorgt durch E. Curtius' »Peloponnesos« (Gotha 1851–52, 2 Bde.), Bursians »Geographie von Griechenland« (Leipz. 1862–72, 2. Bde.) und Lollings »Hellenische Landeskunde und Topographie« (in J. Müllers »Handbuch der klassischen Altertumswissenschaft«, Bd. 3, Nördling. 1889). Wegen der weitschichtigen Literatur über die Topographie von Rom und Athen vgl. die betreffenden Artikel. Für die römische Zeit der österreichischen Länder ist F. Pichlers »Austria romana, geographisches Lexikon etc.« (Leipz. 1904, 2 Bde.) zu vergleichen. Für Kleinasien, dasjenige Land, dessen klassische Topographie in den letzten Jahrzehnten vielleicht die größten Fortschritte gemacht hat, ist man z. T. immer noch auf Cramers »Description of Asia minor« (Oxf. 1832, 2 Bde.) angewiesen; manches Neue bringt die sonst unvollständige und mehr die byzantinische Zeit behandelnde »Historical geography of Asia minor« von W. M. Ramsay (Lond. 1390) und dessen »Cities and bishoprics of Phrygia« (Oxf. 1895 ff.). Den fernern Osten betreffen Vivien de Saint-Martins »Etudes de géographie ancienne et d'ethnographie asiatique« (Par. 1850), die betreffenden Abschnitte in Spiegels »Erânischer Altertumskunde« (Leipz. 1871 bis 1878, 3 Bde.) und Lassens »Indischer Altertumskunde« sowie A. Cunninghams »Ancient geography of lndia« (Bd. 1, 1871). Für Arabien ist Sprengers »Alte Geographie Arabiens« (Bern 1875), für Ägypten Brugsch' »Geographie des alten Ägyptens« (Leipz. 1857) unentbehrlich. – Was die kartographische Darstellung der alten Geographie anlangt, so entspricht dem augenblicklichen Stande der Wissenschaft nur H. Kieperts fast alljährlich berichtigter »Atlas antiquus« (12 Karten; 12. Aufl., Berl. 1901); dann der v. Sprunersche »Atlas antiquus«, von dem 1893 die 4., von W. Sieglin bearbeitete Auflage begonnen wurde (bis 1895: 21 Blätter, Gotha). Während letzterer mehr die Grenzänderungen berücksichtigt, legt ersterer mehr Gewicht auf das Topographische, ebenso wie H. Kieperts zahlreiche Karten zum »Corpus inscriptionum latinarum« (bis 1902: 45 Blatt). Von letzterm erschienen seit 1894: 11 Blätter (die letzten 5 von R. Kiepert bearbeitet) eines großen Atlas der Alten Welt in 36 Karten, der »Formae orbis antiqui«. Von sehr ungleichem Werte sind die in den letzten Jahren von verschiedenen Autoren bearbeiteten »Murray's handy classical maps« (London).
In das Mittelalter leiten über: Zeuß' »Die Deutschen und ihre Nachbarstämme« (Münch. 1837) und Diefenbachs »Origines europaeae« (Frankf. 1861). Einen ersten Beitrag zur Geographie des Mittelalters lieferte Juncker in seiner »Anleitung zur Geographie der mittlern Zeiten« (Jena 1712), die aber fast ausschließlich Deutschland behandelt. Auch die Arbeiten von Köhler, d'Anville und Pischon sind dürftig; vielfach überschätzt wird Lelewels »Géographie du moyen-âge« (Brüss. 1850–52, 4 Bde.; nebst »Epilogue«, 1857). An einer zusammenfassenden Behandlung des Gegenstandes fehlt es begreiflicherweise; dagegen gibt es überaus zahlreiche Einzelarbeiten. Neuere Werke sind: Knüll, »Historische Geographie Deutschlands im Mittelalter« (Bresl. 1903); Kretschmer, »Historische Geographie von Mitteleuropa« (Münch. 1904). Kartographische Darstellungen der mittlern und neuern Zeit lieferten zuerst Kruse und Lesage; die bedeutendste Leistung auf diesem Gebiet ist Sprüners »Handatlas für die Geschichte des Mittelalters und der neuern Zeit« (3. Aufl. von Menke, 90 Karten, Gotha 1879), neben dem Wolfs »Historischer Atlas« (19 Karten, Berl. 1877) und G. Droysens »Allgemeiner historischer Handatlas in 96 Karten« (Leipz. 1885) zu nennen sind.
http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.