- Stanze
Stanze (ital.), eigentlich Wohnung, Zimmer; daher heißen in der Kunstgeschichte »Stanzen« vorzugsweise die von Raffael und seinen Schülern ausgemalten Räume des Vatikans in Rom. – In der Dichtkunst ist S. soviel wie Reimgebäude, Strophe; insbes. das auch Oktave (ital. Ottava rima) genannte epische Versmaß der Italiener, eine aus acht fünffüßigen Jamben bestehende Strophe, in der die Verse so verschlungen sind, daß der 1., 3. und 5., dann der 2., 4. und 6., endlich der 7. und 8. auseinander reimen. Diese Form kommt schon vom 13. Jahrh. an in volkstümlichen Dichtungen vor; Boccaccio erhob sie zu einer Kunstform und verwendete sie zuerst in umfangreichern Gedichten (»Teseïde«, »Filostrato«, »Ninfale Fiesolano«). Die Strophe findet sich bei Italienern in allen größern epischen Gedichten (Ariosts »Rasender Roland«, Tassos »Befreites Jerusalem«); auch Camões hat seine »Lusiaden«, Byron seinen »Don Juan« in dieser Form gedichtet. In Deutschland hat zuerst Diederich von dem Werder die S. in seiner Übersetzung des »Befreiten Jerusalem« (1626), jedoch nicht mit iambischen Fünftaktern, sondern Alexandrinern, angewandt. Lange darauf bediente sich ihrer Werthes 1774 in der Verdeutschung des ersten Gesangs vom »Rasenden Roland«, doch hat schon er, ebenso wie die meisten deutschen Dichter der spätern Zeit, in dem 2., 4. und 6. Vers den männlichen Reim an die Stelle des weiblichen treten lassen. Mit Meisterschaft hat später J. D. Gries (s. d.) in seinen Übersetzungen aus dem Italienischen die Form der S. gehandhabt. Sie wurde in Deutschland aber auch zu selbständigen Dichtungen verwendet, so schon 1774 von Heinse (im Anhang zum »Laidion«), sodann von Goethe, Schiller und vor allem von den Romantikern. Von größern deutschen epischen Dichtungen in Stanzen sei Schulzes »Bezauberte Rose« und Linggs »Völkerwanderung« erwähnt. Indessen eignet sich die S. im Deutschen mehr zu Widmungsgedichten (z. B. in Goethes »Faust«), zu Prologen, gedankenreichen Apostrophen u. dgl. als zu größern epischen Gedichten, wo sie leicht monoton wird und ermüdend wirkt. Diese Erkenntnis regte Wieland schon 1767 in »Idris und Zenide« zu einer freiern Behandlung der S. an, indem er die Zahl der Versfüße beliebig zwischen vier, fünf und sechs schwanken, die Reime aber ein- oder zweimal wiederkehren ließ und dabei willkürlich verband; im »Oberon« (1780) gestattete er sich noch die weitere Freiheit, Anapäste an die Stelle der Jamben zu setzen. Auch Schiller hat diese freiere Form bei seiner Übersetzung des Vergil angewendet; doch hat sie der korrekt gebauten Strophe weichen müssen. Eine andre Abart der S. ist die Spenserstanze, die Spenser in seiner »Feenkönigin« und nach ihm Lord Byron in seinem »Childe Harold« angewandt haben. Sie ist neunzeilig, die Reimpaarung derartig, daß zuerst zwei Zeilen: die 1. und 3., dann vier: die 2., 4., 5. und 7., und zuletzt drei: die 6., 8. und 9., auseinander reimen, und um dem Ganzen einen wirkungsvollern Abschluß zu geben, hat der letzte Vers stets einen Fuß mehr.
http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.