Organtherapie

Organtherapie

Organtherapie (Organotherapie, griech.), eine Behandlungsmethode gewisser Krankheiten und Krankheitssymptome mittels der innern Darreichung gewisser tierischer, und zwar meist drüsiger Organe. Bei der Dürftigkeit unsrer Kenntnisse über die chemische Zusammensetzung der Produkte vieler tierischer Organe ist eine streng wissenschaftliche Erklärung der Wirkungsart dieser Therapie zurzeit in vielen Fällen noch nicht möglich. Ein Verständnis der durch O. erzielten Erfolge ergibt sich aber in folgender Weise. Jedes Organ ist für die Gesundheit und das Leben des Organismus notwendig. Diese Organe haben eine sogen. innere Sekretion (s. d.), die sich an der Bereitung der Lymphe und des Blutes beteiligt und das einzelne Organ in Beziehung zu allen übrigen bringt. Jedes Organ übernimmt eine Funktion für die übrigen, und diese besitzen Funktionen für das eine (Altruismus). Diese Beziehungen setzen die Spezifizität der Zelle voraus, die bei der Entwickelung aus der Eizelle erworben wird, und daher ist die O. eine spezifische Heilmethode für Erkrankungen von Organen mit innerer Sekretion. Ihre Anwendung zu andern Zwecken liegt außerhalb dieser Methode. Die O. begann mit den erfolgreichen Versuchen Kochers in Bern, der Kropfkranke, die infolge operativer Herausnahme ihres Kropfes an eigentümlichen Störungen litten, rohe Schilddrüse von Schafen und Kälbern genießen ließ. Unter dem Genuß dieser tierischen Schilddrüse verloren die operierten Kropfkranken ihre Beschwerden, auch wurden Kropfkranke, bei denen die Kropfbildung nicht auf einfacher Vergrößerung, sondern auf Entartung der Schilddrüse beruht, durch Darreichung von tierischer Schilddrüse geheilt. Frauenärzte kamen auf den nach diesen Erfahrungen naheliegenden Gedanken, daß die wegen Entartung der Eierstöcke operierten Frauen, die, zumal nach Vornahme der Operation in jüngern Jahren, sehr ernstliche Beschwerden davontrugen, von den letztern durch innerlichen Gebrauch von Eierstöcken der Kühe befreit werden könnten, und daß auch bei Entartung der betreffenden Organe sich in geeigneten Fällen die Operation durch die innerliche Medikation werde ersetzen lassen. Bei der Addisonschen oder Bronzekrankheit (s. Nebennieren) findet man stets eine Entartung der Nebennieren, ohne daß der nähere Zusammenhang zwischen diesen Tatsachen genügend aufgeklärt war. Bei Darreichung von tierischer Nebenniere wird zwar nicht die Bronzekrankheit geheilt, aber ihr Verlauf doch günstig beeinflußt und verlangsamt. Außerdem gelang es, aus den Nebennieren ein Extrakt (Suprarenin, Adrenalin) darzustellen, deren Einverleibung die Blutgefäße zu stärkster Zusammenziehung bringt und den Blutdruck dadurch stark steigert. Lokal auf Schleimhäuten angewendet, erzeugt es daher starke Blutleere und erleichtert dadurch Operationen, namentlich in der Nasenhöhle und am Auge. Versuche von Brown-Sequard, der schon 1891 mit ausgepreßtem Saft von Stierhoden bei subkutaner Einverleibung merkwürdige stimulierende Wirkungen gesehen haben wollte, legten den Gedanken nahe, auch diese Organe zu versuchen, jedoch sind einwandsfreie Wirkungen von innerlichem Hodengebrauch nicht konstatiert worden. Endlich sind noch die Zirbeldrüse gegen verschiedene Nervenkrankheiten, die Milz und das Knochenmark gegen Blutarmut, die Nieren gegen Nephritis, die Vorsteherdrüse gegen Erkrankungen derselben, ja sogar Gehirn und Rückenmark, Schleimdrüsen und Lymphdrüsen innerlich gegeben und ebensoviel gepriesen wie verlacht worden. Als Baumann 1894 entdeckte, daß in der normalen Schilddrüse eine Verbindung von Jod (dessen Vorhandensein im gesunden tierischen Körper vollständig unbekannt war) mit Eiweiß (Thyreojodin) vorhanden sei, war der Anfang zu einer wissenschaftlichen Erklärung der O. gegeben. Man konnte wenigstens die stark entfettende Wirkung, welche die »Schilddrüsenfütterung« in manchen (freilich nicht in allen) Fällen zeigte, als Jodwirkung auffassen. Es besteht aber auch die Möglichkeit, daß die entfettende Wirkung auf einer chronischen Vergiftung durch Ptomaine beruht, denn sie zeigt sich am ehesten bei der Darreichung getrockneter, in Tabletten gepreßter Schilddrüse und bleibt bei der Darreichung der frischen Substanz oft aus; auch geht sie häufig mit Erscheinungen schwerer Erschöpfung einher, die den Verdacht auf Vergiftung nahelegen. Auch die Versuche, die Substanz der Lymphdrüsen in komprimierten Tabletten gegen Tuberkulose innerlich zu geben, haben schwere Abmagerung und gefährliche Schwäche zur Folge gehabt. Endlich sind die Versuche vielfach dadurch getrübt worden, daß die gewebsbildende Substanz und die fällbaren Eiweißkörper nicht genügend von dieser drüsigen Substanz getrennt werden konnten. Zur Herstellung der betreffenden Präparate werden die tierischen Organe dem Schlachttiere von kundiger Hand entnommen, sorgfältig von Anhängseln befreit, mittels sterilisierter Zerkleinerungsapparate in Brei verwandelt, dann bei 40° getrocknet und in luftdichten, sterilisierten Reibmaschinen verrieben und gepreßt. Da jedes Kriterium und jedes chemische Reagens fehlt, das über die Richtigkeit der Zubereitung und des Gehaltes Aufschluß geben könnte, bleiben die Organpräparate Vertrauensartikel. Immerhin sind einwandfreie Tatsachen vorhanden, die einen Ausbau der O. auf solider Grundlage erhoffen lassen. Insbesondere ist die Wirkung der Schilddrüse auf Kropfkrankheit und Kretinismus, ferner auf schwere Hautkrankheiten und einige Formen von Fettsucht ein dauernder Gewinn der Therapie. S. auch Opotherapie und Prostatapräparate. Vgl. Roos, Über Schilddrüsentherapie (Freiburg 1897); Honigmann, Über O. (Wiesb. 1901); Korczynski, Errungenschaften und gegenwärtiger Stand der Organotherapie (Wien 1902); Magnus, Die Organ- und Bluttherapie (Bresl. 1906).


http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.

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