Notwehr

Notwehr

Notwehr (Inculpata tutela, Moderamen inculpatae tutelae), »diejenige Verteidigung, die erforderlich ist, um einen gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff von sich oder einem andern abzuwenden« (deutsches Reichsstrafgesetzbuch, § 53; übereinstimmend mit § 227 des Bürgerlichen Gesetzbuches). Eine durch N. gebotene Handlung zieht weder Strafe noch Ersatzpflicht nach sich. Aber nicht nur zur Selbstverteidigung, sondern auch zur Verteidigung eines andern, der widerrechtlich angegriffen wird, ist N. zulässig. Die N. erscheint als ein Recht, und eben dadurch unterscheidet sie sich von dem sogen. Notstand (s. d.), einem bloß faktischen Zustand, in welchem dem in seiner Existenz Bedrohten die Verletzung eines andern zum Zweck der Selbsterhaltung verziehen wird. Die N. ist aber nur dann straflos, wenn der dadurch zurückgewiesene Angriff ein rechtswidriger war. Ist der Angreifende vermöge seiner amtlichen Stellung oder eines Züchtigungsrechts zu der Angriffshandlung befugt, so kann von N. gegen diese nicht die Rede sein, weil eben der Angriff kein rechtswidriger ist; anders jedoch, wenn eine Überschreitung der Amtsbefugnisse vorliegt, und eben darum bestraft das, Reichsstrafgesetzbuch (§ 113) die Widersetzung gegen einen Beamten nur dann, wenn letzterer in der rechtmäßigen Ausübung seines Berufs handelte. Auch ist die N. nicht bloß gegen einen rechtswidrigen Angriff auf Leib und Leben, sondern auch gegen einen solchen gestattet, der gegen die Ehre, die Keuschheit, die Freiheit etc. oder auch nur gegen ein Vermögensrecht gerichtet ist. Da nach dem Vorstehenden der widerrechtlich Angegriffene ein Recht zur N. hat, der in der N. vorgenommene Gegenangriff also kein rechtswidriger ist, so kann auch N. gegen N. nicht zulässig sein, während einem im Notstand (s. d.) unternommenen Angriff gegenüber die N. keineswegs ausgeschlossen ist. Der durch die N. abgewiesene rechtswidrige Angriff muß aber ferner ein gegenwärtiger sein, d.h. bereits begonnen haben oder doch unmittelbar bevorstehen, wobei der Bedrohte den Beginn der Tätlichkeiten nicht etwa erst abzuwarten braucht. Endlich ist aber auch nur diejenige Verteidigung erlaubt und straflos, die erforderlich war, um den gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff zurückzuweisen. Es muß also ein andres Mittel zur Zurückweisung desselben, namentlich das Anrufen des obrigkeitlichen Schutzes, ausgeschlossen sein; auch darf die Verteidigung nicht weiter gehen, als es zur Bekämpfung jenes Angriffs erforderlich ist. Die Größe der Verteidigung muß zu der Größe des Angriffs im richtigen Verhältnis stehen; sie darf nicht voreilig erfolgen, und sie darf auch nicht etwa fortgesetzt werden, nachdem die Gefahr bereits abgewendet ist. Ein Exzeß (Überschreitung) der N. ist daher strafbar; doch erklärt das deutsche Reichsstrafgesetzbuch (§ 53) denselben dann für straflos, wenn der Täter in Bestürzung, Furcht oder Schrecken über die Grenzen der Verteidigung hinausgegangen ist. Die gleichen Grundsätze enthält das österreichische Strafgesetzbuch (§ 2); doch ist die Überschreitung der N. ein Vergehen oder eine Übertretung, je nachdem der Tod oder eine körperliche Beschädigung daraus erfolgte (§ 335, 421). Da die durch N. gebotene Handlung nicht widerrechtlich ist, begründet sie auch keine Schadenersatzpflicht (§ 227 u. 823 des Bürgerlichen Gesetzbuches). Das Bürgerliche Gesetzbuch kennt jedoch keinen Notwehrexzeß, und so verpflichtet dieser bei Vorsatz oder Fahrlässigkeit zum Schadenersatz. Vgl. Levita, Das Recht der N. (Gießen 1856); Geyer, Die Lehre von der N. (Jena 1857); Tobler, Die Grenzgebiete zwischen N. und Notstand (Zür. 1894); v. Kallina, N. gegenüber Amtshandlungen (Prag 1898); Alberti, Das Notwehrrecht (Stuttg. 1901); Ölker, Über N. und Notstand (Leipz. 1903), und die Literatur bei Artikel »Notstand«.


http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.

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