- Luft, flüssige
Luft, flüssige, durch Druck und Kälte verflüssigte atmosphärische Luft. Mit Hilfe der im Artikel »Gase« (S. 365) beschriebenen und abgebildeten Apparate kann nahezu 1 kg s. L. in der Stunde mit 3 Pferdestärken hergestellt werden, die größte bisher erprobte Verflüssigungsmaschine erzeugt stündlich 50 kg mit etwas weniger als 100 Pferdestärken, und bei weiterer Vervollkommnung der Maschine dürfte der relative Arbeitsverbrauch auf 1,5 Pferdestärke für 1 kg herabsinken. Eine weitere Herabminderung auf 1 Pferdestärke würde theoretisch nur einem Wirkungsgrad von etwa 30 Proz. entsprechen. Mit Rücksicht auf die übrigen Umstände kann man bei Großbetrieb (etwa 1000 kg täglich) die Gesamtkosten für 1 kg s. L. auf etwa 10 Ps. veranschlagen. Zur Aufbewahrung der flüssigen Luft ist die Anwendung von Stahlflaschen vollkommen ausgeschlossen, da bei Temperaturen, die über der kritischen (-140°) liegen, atmosphärische Luft nur in Gasform bestehen kann. Man kann aber kleine Mengen flüssiger Luft in doppelwandigen Glasflaschen, bei denen der Zwischenraum zwischen beiden Wänden gut evakuiert und die äußere Wandung versilbert ist (Dewarsche Flaschen, s. Gase, S. 365), verhältnismäßig lange aufbewahren. 1 Lit. s. L. verdampft in einem solchen Gefäß erst in 14 Tagen. In der Technik benutzt man mit Filz oder Schafwolle bekleidete Blechgefäße von rund 50 Lit. Inhalt, in denen stündlich etwa 2 Lit. s. L. verdampfen, es wird aber wohl gelingen, Blechgefäße für Aufbewahrung und Transport herzustellen, in denen die Verdampfung nicht mehr als 1 Proz. in der Stunde beträgt. Die s. L. bildet eine leicht bewegliche, schwach himmelblaue Flüssigkeit, deren Farbe mit fortschreitender Verdunstung immer kräftiger wird. Sie gestattet ohne weiteres, eine Temperatur von -191° zu erzeugen. Da aber der Wirkungsgrad der gewöhnlichen Kältemaschinen den der Lustverflüssigungsmaschine um mehr als das Doppelte übersteigt, und da die in flüssiger Luft verfügbare Kälte etwa 40–50mal den Arbeitsaufwand einer gewöhnlichen Kältemaschine erfordert, solange es sich um Temperaturen handelt, die nicht tief unter dem Gefrierpunkte des Wassers liegen, kann an zweckmäßige Verwendung flüssiger Luft als Kältemittel nur gedacht werden, wo niedrigere Kältegrade herzustellen sind, als die Kältemaschinen liefern (unterhalb -50°), oder wo gegenüber den besondern Eigenschaften der flüssigen Luft der große Arbeitsaufwand nicht in Betracht kommt. Mit Fällen der erstern Art hat man es zunächst nur zu wissenschaftlichen Zwecken zu tun, doch ist möglich, daß die Technik künftig von solchen tiefen Temperaturen Gebrauch machen wird. Bei leichter Erreichbarkeit, bei einer Organisation des Handels mit flüssiger Luft, ähnlich dem Eishandel, mag auch für gewisse Luxuszwecke Gebrauch von flüssiger Luft als Kältemittel gemacht werden, z. B. auf der Speisetafel, oder wo ohne Rücksicht auf die Kosten kühle, reine Luft in Krankenzimmer, Konferenzräume eingeführt werden soll. Bei der Verwendung flüssiger Luft zu motorischen Zwecken kommt in Betracht, daß die zur Verflüssigung erforderliche Energiemenge theoretisch schon beinahe doppelt, tatsächlich aber sechsmal so groß ist wie die entzogene Wärmemenge, also wie diejenige Energiemenge, die bei der Vergasung aus der Umgebung aufgenommen werden kann.
Und da nun in einer Kraftmaschine nur ein gewisser Teil dieser Energie als mechanische Arbeit gewonnen werden kann, so weist die Rechnung nur wenige Prozente der zur Luftverflüssigung aufzuwendenden Arbeit als gewinnbare Leistung einer nur mittels flüssiger Luft betriebenen Kraftmaschine nach. Überwiegende Vorteile wird man daher nur erzielen, z. B. bei Arbeitsvorgängen unter Wasser, bei Torpedos, Unterseebooten, Taucherarbeiten etc., vielleicht auch bei Arbeiten unter Tage. Günstiger gestaltet sich die Sache, wenn die Anwendung flüssiger Luft mit der Verbrennung geeigneter Stoffe, wie Petroleum, vereinigt wird. Man hat dann einen Petroleummotor, bei dem aber ebensowenig an eine zweckmäßigere Gestaltung des Arbeitsganges wie an einen wirtschaftlichen Motor der erstern Art gedacht werden kann. Immerhin kann hierbei ein Wirkungsgrad erzielt werden, der als ausreichend anzusehen ist, wenn es sich um weitgehende Verringerung des Konstruktionsgewichtes, wie z. B. bei gewissen Motorwagen, handelt.
Am wichtigsten ist wohl die sogen. Fraktionierung, die Trennung des Sauerstoffs vom Stickstoff durch die Verdampfung flüssiger Luft. Je weiter die Verdampfung fortschreitet, um so reicher an Sauerstoff wird der Rückstand. Dies beruht auf der Tatsache, daß der Siedepunkt des flüssigen Sauerstoffs (-183°) 13° höher liegt als der des flüssigen Stickstoffs (-196°). Verwendet man die bei der Verdampfung frei werdende Kälte zur Verflüssigung einer gleichen Menge Luft, so ist nur derjenige Arbeitsverbrauch zu decken, der den unvermeidlichen Kälteverlusten entspricht. Hierauf gründet sich ein Verfahren, das in Aussicht stellt, mindestens 1 cbm Gas mit 50 Proz. Sauerstoff (Lindeluft) durch 1 Pferdestärkestunde zu gewinnen. Solches Gas würde vielfach technische Verwendung finden können (vgl. Sauerstoff), unter anderm auch zur Erzeugung eines außerordentlich intensiven Gasglühlichts, da die Flamme eines Mischgases aus Lindeluft und Leuchtgas eine Temperatur von etwa 3000° besitzt. Althans will mit Lindeluft aus minderwertigen Kohlen hochwertige Gase darstellen. Im obern Teil eines schachtförmigen Generators (s. Abbildung, S. 797) befindet sich eine konische Retorte, die von den aus der Rast und dem Gestell aufsteigenden Gasen umspült wird und zur Entgasung der kohlehaltigen Beschickung dient. Die »Obergase« entweichen getrennt von den »Untergasen«, mit denen sie erst nach entsprechender Abkühlung der letztern vereinigt werden können. Die Untergase entstehen durch die Verbrennung des aus der Retorte herabsinkenden Koks unter Zuführung sauerstoffreichen Windes und überhitzten Wasserdampfes, und ihre hohe Temperatur wird ebensowohl zur Heizung der Retorte als zur Überhitzung, gegebenenfalls auch zur Erzeugung des Wasserdampfes benutzt. Auf solche Weise lassen sich also in ununterbrochenem Betriebe stickstoffarme Gemische von Kohlenoxyd und Wasserstoff herstellen, die unter anderm für Heizanlagen und den Betrieb von Gasmaschinen von hoher Bedeutung werden dürften. Man hat auch versucht, die Verdunstungskälte flüssiger Luft zu medizinisch-therapeutischen Zwecken zu benutzen, so zur lokalen Abstumpfung des Gefühls, zur Behandlung von Neuralgien, bei oberflächlichen Geschwüren und Lupus. Der aus flüssiger Luft erhaltene Stickstoff kann zur Darstellung von Cyaniden, auch als Feuerlöschmittel benutzt werden.
Auch zur Herstellung von Sprengstoffen (Oxyliquid) hat man die bei Verbrennung oxydierbarer Stoffe in flüssiger Luft frei werdende motorische Kraft benutzt. Mischt man die durch Verdampfung von Stickstoff sauerstoffreich gewordene Flüssigkeit mit geeigneten oxydierbaren Stoffen in der Art, daß eine sehr große Berührungsoberfläche hergestellt wird, so zeigt die Mischung explosible Eigenschaften. Mit flüssiger Luft getränktes Kohlenpulver verpufft bei Berührung mit einer Flamme, explodiert aber, wenn es durch ein Zündhütchen entzündet wird, trotzdem die Temperatur des Gemisches -180° beträgt. Kieselgur oder Korkkohlepulver, das nach Absorption von Mineralöl mit der sauerstoffreichen Flüssigkeit gesättigt wird, übertrifft bei richtigem Mischungsverhältnis die brisantesten in der Technik verwendeten Sprengstoffe in bezug auf das für die Gewichtseinheit erzielte Produkt aus Druck und Volumen der Verbrennungsgase und in bezug auf die Kürze der Zeitdauer vom Beginn der Drucksteigerung bis zum Eintritte des höchsten Druckes. Man taucht die Patronen, die die Mischung des porösen Körpers mit dem oxydierbaren Stoff enthalten, in die s. L. und besetzt damit die Bohrlöcher etwa so wie mit Sprenggelatine. Bei der Flüchtigkeit der flüssigen Luft ist es sehr schwer zu erreichen, daß der Sprengstoff bei der Explosion stets dieselbe Zusammensetzung besitzt, und daher hat sich auch bei den Versuchen keine genügende Gleichmäßigkeit der Wirkung erzielen lassen. Vgl. Linde, Sauerstoffgewinnung mittels fraktionierter Verdampfung flüssiger Luft (Berl. 1902); Kausch, Die Herstellung, Verwendung und Aufbewahrung von flüssiger Luft (2. Aufl., Weim. 1905); Nowicki, Flüssige Luft (Mährisch-Ostrau 1905).
http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.