- Lebensdauer
Lebensdauer, die bei den verschiedenen Pflanzen- und Tierarten sehr ungleiche, aber für dieselbe Art im Mittel gleichbleibende zeitliche Ausdehnung des Lebens, die bereits sehr früh die Aufmerksamkeit des Volkes erregt und sich in alter Spruchweisheit ausgeprägt hat. Nach der letztern soll z. B. ein Zaunkönig drei Jahre, ein Hund drei Zaunkönigsalter, ein Roß drei Hundsalter, ein Mensch drei Roßalter erleben u. s. s. bis zum Eichbaum, der nach dieser Rechnung 20,000 Jahre erleben sollte. Bacon von Verulam meinte, die L. richte sich nach der Dauer des Wachstums, je langsamer ein Wesen die Reifezeit erreiche, desto länger lebe es, und da sich die Tiere um so langsamer entwickelten, je größer sie seien, so lebten die größern Tiere, wie z. B. die Elefanten, auch am längsten, viele kleinere Tiere, wie die Insekten. dagegen nur kurze Zeit, Monate, Wochen, Tage und Stunden. Einzelne Insekten, wie z. B. die Eintagsfliegen, leben bekanntlich im ausgebildeten Zustand nur einige Stunden und sterben, ohne Nahrung zu sich genommen zu haben, bald nach ihrer Begattung. Flourens glaubte die L. der fünffachen Wachstumsdauer gleichsetzen zu dürfen, und andre Forscher schrieben der Energie des Lebens einen bestimmenden Einfluß auf die Abnutzung der Organe zu, indes befinden sich unter den Vögeln, die sich des lebhaftesten Naturells und Stoffwechsels erfreuen, gerade die langlebigsten Tiere. So dauerten Raubvögel selbst in Menagerien über 100 Jahre aus. Die letzterwähnte Ansicht fußt auf der andern, daß Unbrauchbarwerden der Gewebsteile des Körpers durch sogen. Involution die eigentliche Ursache des Alterns und Sterbens darstelle. Aber schon der Umstand, daß Tiere sehr verschiedener Klassen und Lebensweisen ein gleiches Lebensalter erreichen, spricht dagegen. Die mittlere L., die eine bestimmte Art im natürlichen Verlauf der Dinge zu erleben pflegt, muß man von der höchsten L. trennen, die sie unter besonders günstigen Verhältnissen erleben kann. So lebte in einem Edinburger Aquarium eine Seeanemone mehr als 60 Jahre, ein Alter, das sie vermutlich in der Freiheit nicht erlebt. Die maximale L. soll nach Flourens beim Kameel 100, beim Pferd 50, bei der Katze 20, beim Hunde 24 Jahre betragen, während im Durchschnitt ein Pferd nur 25, eine Katze 9–10, ein Hund 10–12 Jahre alt werden soll. Da bei vielen Tieren die Zahl der Individuen im wesentlichen von Jahr zu Jahr dieselbe bleibt, also ebenso viele Tiere sterben, als durchschnittlich Junge aufkommen, steht die mittlere L. in einem bestimmten Verhältnis zur Vermehrungsfähigkeit. Im allgemeinen werden daher Tiere, die im Jahre wenig Junge aufbringen, länger leben müssen als solche mit reicher Nachkommenschaft. Die Ansicht von Götte, der im Fortpflanzungsakt selbst die Ursache des schnellern oder langsamern Hinsterbens sehen wollte, weil einige Insektenmännchen gleich nach der Begattung und die Weibchen bald nach der Brutablage sterben, ist nicht allgemeingültig. Nach Weismann handelt es sich bei der mittlern L. um ein Zusammenwirken von Vermehrungsfähigkeit, Entwickelungsdauer, Ernährungsverhältnissen, Zahl der Vertilger etc. Man muß also annehmen, daß diese Verhältnisse, die beinahe für jede einzelne Art andre sind, aber in gewissen Grenzen konstant bleiben, den Organismus sozusagen zu einer Feder von bestimmter Stärke gestalten, deren Spannkraft nur eine gewisse Zeit über die wahrscheinliche L. hinaus vorhält; die letztere würde sonach zu den sogen. Anpassungserscheinungen zu rechnen sein. Wahrscheinlich hat sich ebenso, wie jedem Organismus eine bestimmte mittlere Körpergröße zukommt, die durch eine Grenze der Zellenvermehrung gesetzt wird, auch eine Grenze der Regeneration der Zellen für jede Art eingeführt, mit deren Annäherung das Altern und langsame Absterben beginnt. Da nun offenbar jeder Organismus in seinem Leben Beschädigungen ausgesetzt ist, die nicht vollständig ausgebessert werden können, so muß schon aus diesem Grunde die Beschränkung der L. als eine Zweckmäßigkeitseinrichtung bezeichnet werden, und ohne sie wäre eine Entwickelung zu höhern Formen kaum denkbar gewesen. Die genauere Betrachtung dieser Verhältnisse hat einige auffällige Tatsachen aus Licht gebracht, z. B. die unbegrenzte L. der niedersten Wesen, deren Körper nur aus einer einzigen oder aus mehreren völlig gleichartigen Zellen besteht. Sowohl bei den erstern, die sich durch eine immerfort wiederholte Teilung vermehren, als bei den letztern, wo aus jeder einzelnen Zelle des aufgelösten Verbandes ein neuer Zellenkomplex hervorgeht, kann von einem natürlichen Absterben aus Altersschwäche keine Rede sein, sie unterliegen nur der gewaltsamen Vernichtung. – Bei den Pflanzen schließt sich die L., ähnlich wie bei vielen Insekten, teilweise an den regelmäßigen Zyklus der günstigen Entwickelungsperioden im Jahreslauf. Demgemäß sind die meisten Pflanzen ein- oder zweijährig, je nachdem sie ein oder zwei Jahre bis zur Entwickelung der Samen gebrauchen. Bei den mehrjährigen oder ausdauernden Kräutern, Sträuchern und Bäumen handelt es sich um ein jährliches Neuergrünen der mit Reservestoffen erfüllten Wurzelstöcke oder Äste, resp. um einen allmählichen Ersatz der Blatter bei immergrünen Pflanzen, und alle solche ausdauernden Gewächse können unter Umständen ein sehr hohes Alter erreichen, wie man denn häufig von tausendjährigen Eichen, Rosenstöcken etc., ja selbst von mehrtausendjährigen Farnen, Drachen- und Affenbrotbäumen etc. spricht. Vgl. Weismann, Über die Dauer des Lebens (Jena 1882) und Über Leben und Tod (das. 1884); A. Götte, Über den Ursprung des Todes (Hamb. 1883); Dastre, La vie et la mort (Par. 1903); F. Hildebrand, Die L. und Vegetationsweise der Pflanzen (Leipz. 1882); Göppert, Die Riesen des Pflanzenreichs (Berl. 1869). – Über die L. des Menschen s. auch Sterblichkeit.
http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.