- Kriegszustand
Kriegszustand (Kriegsstand, franz. Etat de guerre), der Zustand tatsächlicher Aufhebung des bisherigen friedlichen Verhältnisses zwischen zwei oder mehreren Staaten; der Eintritt desselben erfolgt entweder durch tatsächliche Gewaltmaßregeln oder durch eine Kriegserklärung (s. d.). Der K. löst jedoch nicht alle rechtlichen Beziehungen zwischen den streitenden Teilen auf; vielmehr treten vor allem diejenigen Verpflichtungen in Wirksamkeit, die gerade für den Fall eines Krieges durch das Völkerrecht oder durch besondere Verträge begründet worden sind, wie bezüglich der Neutralität gewisser Gebiete, des Schutzes gewisser Verhältnisse und Anstalten (Genfer Konvention), des Ausschlusses gewisser Kampfmittel u. dgl. So sind durch das auf der Haager Konferenz (s. Friedenskonferenz) vom 29. Juli 1899 getroffene Abkommen verboten das Werfen von Geschossen und Sprengkörpern aus Luftschiffen oder auf andern ähnlichen neuen Wegen, die Verwendung von Geschossen mit erstickenden oder giftigen Gasen, die Verwendung von Geschossen, die sich leicht im menschlichen Körper ausdehnen oder platt drücken. Die Lydditbomben, die Dumdumgeschosse des Burenkrieges haben aber gezeigt, daß die streitenden Parteien schließlich auch zu verbotenen Mitteln greifen, um den Gegner niederzuwerfen, was trotz aller Kongresse immer und ewig der Endzweck jedes Krieges sein wird. Auch bleiben die schon in Vollzug gesetzten Verträge, soweit sie zu bereits vollendeten rechtlichen Tatsachen geführt haben, in Kraft. Ebenso können die Angehörigen des gegnerischen Staates in Feindesland ruhig weiterwohnen und ihre Geschäfte fortsetzen, solange sie nicht durch ihr Verhalten dessen militärische Interessen gefährden; die gegenteiligen Maßnahmen (Ausweisung, Xenelasie genannt) Frankreichs 1870 wurden von allen Unparteiischen als Verstoß gegen die Humanität verurteilt. Im russisch-türkischen Kriege 1877, im chinesisch-japanischen 1894, im spanisch-amerikanischen 1898, im russisch-japanischen 1904 fand gleichfalls keine Ausweisung der gegnerischen Staatsangehörigen statt. Hingegen wird durch den Beginn des Kriegszustandes der Tätigkeit der Gesandten und Konsuln ein Ende gemacht, die Beschränkung der Unverletzlichkeit des Privateigentums zur See in Kraft gesetzt (s. »Frei Schiff, frei Gut« und »Prise«) und für die Neutralen der ganze Kreis ihrer Rechte und Pflichten (vgl. Neutralität) verwirklicht. Auch für die innern Verhältnisse der kriegführenden Staaten knüpfen sich gewisse Wirkungen an den K., so treten die für strafbare Handlungen im Felde gegebenen Vorschriften (Kriegsgesetze) in Kraft, kann das Privateigentum, besonders in der Nähe von Festungen, bestimmten Beschränkungen unterworfen und die Verpflichtung zu Kriegsleistungen (s. d.) geltend gemacht werden. In Beziehung auf strafrechtliche Folgen ist nach § 164 des deutschen Militärstrafgesetzbuches als im K. befindlich jedes Schiff der Kriegsmarine zu betrachten, das außerhalb der einheimischen Gewässer allein fährt. Beendigt wird der K. durch Besiegung und Unterwerfung des Gegners, durch Friedensschluß oder durch Einstellung der Feindseligkeiten. Die Verhängung des Kriegszustandes ist eine Maßregel, die entweder zu militärischen Zwecken oder aus Rücksichten der höhern Sicherheitspolizei verfügt wird. Im Deutschen wird das Wort Belagerungszustand (s. d.) als gleichbedeutend gebraucht. Im Französischen bedeutet état de siège (Belagerungszustand) ursprünglich wenigstens (Gesetz vom 8. Juli 1791) die schärfere Form gegenüber état de guerre (K.), nämlich den Übergang aller Polizeigewalt auf den Militärbefehlshaber. Im Deutschen Reich (außer Bayern) kommt nach der vorherrschenden Ansicht das Recht der Erklärung des Belagerungszustandes lediglich dem Kaiser zu; nur für Elsaß-Lothringen hat ein Reichsgesetz vom 30. Mai 1893 den obersten Militärbefehlshabern das Recht beigelegt, im Falle des Krieges oder eines unmittelbar drohenden Angriffs zum Zweck der Verteidigung die Ausübung der vollziehenden Gewalt zu übernehmen, bis die sofort einzuholende Entscheidung des Kaisers über die Verhängung des Kriegszustandes erfolgt ist. Vgl. v. Liszt, Völkerrecht (4. Aufl., Berl. 1904); Zorn, Kriegsmittel und Kriegführung im Landkriege nach den Bestimmungen der Haager Konferenz 1899 (Königsb. 1902); Bruyas, De la déclaration de guerre, sa justification, ses formes extérieures (Par. 1899).
http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.