Findelhäuser

Findelhäuser

Findelhäuser, Anstalten, in denen Findlinge (Findelkinder), d. h. von ihren Eltern verlassene und ausgesetzte Kinder, aufgenommen und bisweilen auch erzogen werden. In der neuern Zeit nennt man F. auch Anstalten, denen Säuglinge von ihren Müttern oder Angehörigen, die sie nicht verpflegen können, übergeben werden. Die erste derartige Anstalt soll im 6. Jahrh. in Trier bestanden haben. Insbesondere ließ sich die Kirche, die das Leben der damals in großer Zahl ausgesetzten Neugebornen schützen wollte, die Gründung und weitere Verbreitung der F. angelegen sein. Verbürgt ist die Tatsache, das 787 in Mailand ein Findelhaus bestand. Diesem Beispiel folgten 832 Siena, 1000 Padua, 1070 Montpellier, 1200 Einbeck, 1317 Florenz, 1331 Nürnberg, 1362 Paris, 1380 Venedig, 1624 Stockholm, 1687 London. 1198 wurde von Innozenz III. in dem von ihm errichteten Ospedale di Santo Spirito zuerst die Drehlade (Drehkreuz, franz. tour, ital. ruota) eingeführt, ein leicht um die Achse drehbarer Halbzylinder, der es gestattet, Kinder ungesehen abzugeben. 1414 folgte hierin Florenz, dann Mailand, 1804 Frankreich. Vornehmlich fanden die F. in romanischen Ländern, dann in Österreich und Rußland Eingang, im protestantischen Norden (London, Kopenhagen, Berlin, Dresden, Hamburg, Kassel) erst im Beginn des 18. Jahrh., gingen aber hier fast alle bald wieder ein. In Frankreich wurden schon 1362 die Gemeinden gesetzlich zur Verpflegung der Findlinge verpflichtet. Ein Gesetz vom 28. Juni 1793 dekretierte Anstalten für die enfants naturels de la patrie, ohne daß solche jedoch ins Leben traten. Das Dekret vom 19. Jan. 1811 legte den Spitälern die Fürsorge für die enfants assistés (enfants trouvés, enfants abandonnés und orphelins pauvres) auf. Jedes Arrondissement sollte ein Spital (hospice dépositaire) mit Drehlade haben, die Kinder aber sollten möglichst bald Familien anvertraut werden. Infolge hiervon stieg die Zahl der auf öffentliche Kosten unterhaltenen Kinder 1833 auf 129,629 gegen 45,000 im J. 1809. Um zu verhüten, daß verheiratete Mütter ihre Kinder dem Findelhaus übergäben, um sie dann als bezahlte Pflegemütter wieder zurückzunehmen, wurde das sogen. Deplacement eingeführt, d. h. die Kinder wurden in entfernten Departements bei Pflegeeltern untergebracht. Da dies Mittel aber die Aussicht erschwerte und die Kosten erhöhte, so wurden 1834 die Präfekten ermächtigt, mit Zustimmung der Generalräte die Drehladen aufzuheben, die denn auch 1870 ganz verschwunden waren. Bei den Aufnahmebureaus (bureaux d'admission) müssen Mitteilungen über die aufzunehmenden Kinder gemacht werden. Die Aufnahme erfolgt nur dann, wenn eine rom Vorstand angestellte Prüfung dies als angemessen erscheinen läßt. Infolgedessen ist die Zahl der enfants trouvés auf etwa 3000 zurückgegangen, während die der enfants abandonnés über 80,000 beträgt und dem Staat einschließlich der Waisenversorgung über 4 Mill. Fr. Kosten verursacht.

In Italien fand bis 1866 unbedingte Aufnahme in F. mit Drehladen statt. Seitdem wurden die Drehladen mehr und mehr beseitigt. Es gab 1866 noch 1179 Gemeinden mit Drehladen, 1897 deren 306. Da, wo die Drehladen beseitigt sind, findet die Aufnahme in einem Bureau statt, wo die Gründe anzugeben sind, wegen deren das Kind übergeben wird. 49 Provinzen haben Anstaltspflege, in 20 Provinzen werden die Kinder Ziehmüttern übergeben. Auch in Portugal wurden 1867 die Drehladen bis auf eine in Lissabon unterdrückt.

In Österreich bestehen gegenwärtig zwei große, von Joseph II. begründete Anstalten in Wien (die 1784 eröffnete niederösterreichische Landesgebär- und Findelanstalt) und in Prag und außerdem einige kleinere, die den Namen Findelhaus tragen, aber eigentlich nur als Ergänzung zu den großen Entbindungsanstalten anzusehen sind. Uneheliche, in der Gebäranstalt geborne Kinder kommen in der Regel am zehnten Lebenstage mit ihren Müttern in die Findelanstalt, wo die Mütter Ammendienste versehen. Später werden die gut entwickelten Kinder gegen Bezahlung und unter Aussicht der Anstalt an Pflegeeltern, nach 6–10 Jahren der Fürsorge der Mutter oder der Heimatgemeinde übergeben. Rußland hat zwei große, unter Katharina II. reformierte F. in Petersburg und Moskau. Die Findlinge bleiben bis zum 21. Lebensjahr unter der Obhut der Anstalt. In den Gouvernements, wo bis 1808 keine F. bestanden, ist die Errichtung von solchen verboten, in andern unterliegt die Aufnahme großen Beschränkungen. Findlingskolonien hat die Kaiserin Maria in Saratow gegründet, fünf Dörfer, in denen jede Familie ein Pflegekind von 12–13 Jahren aus dem Findelhaus zu Moskau erhält. In Großbritannien und Irland werden die Findlinge entweder in Waisenhäusern oder durch die Kirchspiele auf Kosten der Armentaxe erzogen. Außerdem bestehen F. in London (gegründet 1739, seit 1771 durch Privatmittel unterhalten) und in Dublin (bis 1826 mit Drehlade, die wegen zu starken Andranges abgeschafft wurde). Die Kinder dieser beiden Anstalten werden nur auf persönliche Fürsprache der Mutter aufgenommen und dann auf dem Land erzogen. Dänemark besitzt ein Kinderpflegehaus in Kopenhagen, das eine Art Findelanstalt bildet. In Deutschland gibt es keine F. Der Findlinge hat sich die Ortsarmenpflege anzunehmen. Außer in Italien sind die F. jetzt überall nur für eine vorübergehende Aufnahme bestimmt. Die Kinder werden bis zu gewisser Zeit unter fortdauernder Überwachung durch die Anstalt Familien in Verpflegung gegeben, dann wird die Rückforderung durch die Eltern möglichst erleichtert. Zugunsten der Drehladen hat man geltend gemacht, daß durch Aufhebung derselben die Fruchtabtreibungen, Totgeburten und Kindesmorde vermehrt würden. Doch sprechen die in Italien gesammelten Erfahrungen nicht hierfür. Gegen die F. und insbes. die Drehladen führt man an, daß durch dieselben das Verantwortlichkeitsgefühl der Eltern geschwächt werde, daß sie, indem sie den letztern die Sorge für die Kinder abnähmen, die geschlechtlichen Ausschweifungen beförderten und nicht imstande seien, in ihren alles Heimats- und Familiengefühls baren Zöglingen tüchtige, brauchbare Menschen zu erziehen; auch weist man auf die hohe Sterblichkeit und die großen Kosten der F. hin. In der neuern Zeit hat sich allerdings die Sterblichkeit infolge besserer Verpflegung (hygienische Einrichtungen, bessere künstliche Ernährung) stark vermindert. In den meisten Ländern werden die Findlinge, deren Herkunft unbekannt ist, unter die Zahl der unehelichen Kinder gerechnet. Das deutsche Personenstandsgesetz vom 26. Febr. 1875 bestimmt in § 26, daß, wer ein neugebornes Kind findet, hiervon spätestens am nächstfolgenden Tage bei der Ortspolizei Anzeige zu erstatten habe. Auf Grund der durch die Ortspolizei vorgenommenen Ermittelungen hat dann der Standesbeamte des Bezirks die Eintragung in das Geburtsregister (Zeit, Ort, Umstände des Auffindens, Beschaffenheit und Kennzeichen der beim Kind vorgefundenen Kleider, körperliche Merkmale, Geschlecht, vermutliches Alter etc.) zu betätigen. In Preußen und Sachsen steht die Bevormundung eines Findelkindes demjenigen Gericht zu, in dessen Bezirk es gefunden wurde. Die Findlinge erhalten, sofern nicht ihr wirkliches Vaterland ermittelt wird, die Staatsangehörigkeit in demjenigen Lande, wo sie aufgefunden, bez. in ein Findelhaus aufgenommen werden. Das deutsche Bürgerliche Gesetzbuch bestimmt über Findelkinder nichts. Vgl. Hügel, Die F. und das Findelwesen Europas (Wien 1863); Epstein, Studien zur Frage der Findelanstalten (Prag 1882); Lallemand, Histoire des enfants abandonnés et délaissés (Par. 1885); Raudnitz, Die Findelpflege (Wien 1886); Friedinger, Denkschrift über die Wiener Gebär- u. Findelanstalt (das. 1887); Rahts, Artikel »Findelwesen« in Dammers »Handwörterbuch der öffentlichen und privaten Gesundheitspflege« (Stuttg. 1890).


http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.

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