- Engel [1]
Engel (v. griech. angelos, »Bote, Gesandter«), in dem religiösen Vorstellungskreis besonders der semitischen Religionen und des Christentums Mittelwesen zwischen Gott, als dessen Hofstaat oder Dienerschaft sie geradezu im Orient gedacht werden, und den Menschen, denen sie als Verkündiger und Vollstrecker des göttlichen Willens erscheinen. Die biblische Vorstellung steht im engsten Zusammenhang mit der hebräischen Weltanschauung. Da diese Gottes Wohnstätte über die Erde verlegt, so daß Gott, um sich unmittelbare Kenntnis vom Tun und Treiben der Menschen zu verschaffen, von Zeit zu Zeit herabsteigen muß, so bedurfte es nur einer fortgeschrittenen Entwickelung des Gottesbegriffs, namentlich einer strengern Sonderung desselben von Welt und Natur, um an die Stelle der Gotteserscheinungen (Theophanien) Engelerscheinungen (Angelophanien) treten zu lassen. Diese E. schweben in den ältern alttestamentlichen Schriften noch in der Mitte zwischen der Versinnbildlichung des Begriffs der Naturkräfte als Mittelursachen (Ps. 104,4) und der eigentlichen Personifikation der göttlichen Exekutivgewalt (2. Kön. 19, 35). Der in den jahwistischen Teilen des Pentateuchs erscheinende »E. des Herrn« ist geradezu Repräsentation Gottes. Seit den Zeiten des babylonischen Exils hat die Vorstellung von den Engeln sich in deutlich erkennbarer Weise sinnlich verdichtet; ein »Heer« von Engeln umgibt den göttlichen Thron; einige unter ihnen, wie Gabriel (Dan. 8, 16; 9, 21; Luk. 1, 19. 26), stehen als »Fürsten« und »Erzengel« Gott am nächsten; die verschiedenen Erscheinungen der Natur sowie die Vorgänge des Geschichtslebens der Menschheit werden ihrer Einwirkung unterstellt und in beiderlei Beziehung die Funktionen unter sie verteilt. Nicht bloß die Völker haben ihre besondern Vorstände in der Engelwelt (Dan. 4, 10), Israel z. B. im Erzengel Michael (Dan. 12, 1), sondern auch die einzelnen Individuen haben ihre Schutzengel (Matth. 18,10; Apostelgesch. 12, 15). Diese ausgebildete Engellehre durchzieht auch das ganze Neue Testament, wo ihnen Geschlechtslosigkeit zugeschrieben wird (Matth. 22, 23 ff.); dieses im Gegensatze zu den Sadduzäern, die den Glauben an E. verwarfen. Allmählich nahmen die E. auch Flügel an und wuchsen mehr oder weniger in die Gestalt der geflügelten Genien hinüber, welche die altklassische bildende Kunst erfunden hatte. Die Rangordnung der E. beschrieb dann mit naturwissenschaftlicher Genauigkeit Dionysios Areopagita (s. Dionysios 6), und die kirchliche Dogmatik baute die Engellehre bis ins einzelnste aus. Im übrigen s. Angelolatrie. Vgl. Oswald, Angelologie, die Lehre von den guten und bösen Engeln (Paderb. 1883).
In der bildenden Kunst sind die E. schon frühzeitig zum Gegenstand der Darstellung gemacht worden, aber anfangs fast immer in Verbindung mit andern Figuren (Erzengel Gabriel bei Mariä Verkündigung, Erzengel Raphael und der junge Tobias). Die älteste christliche Kunst (Wandgemälde in den Katakomben) stellte sie als erwachsene Jünglinge in menschlicher Gestalt ohne Unterscheidungsmerkmale dar. Erst im 4. Jahrh. wurden sie durch Heiligenscheine und Flügel gekennzeichnet (vgl. Stuhlfauth, Die E. in der altchristlichen Kunst, Freib. 1894), und daran hielt die bildende Kunst der folgenden Zeiten fest. Eine Ausnahme machen die singenden und musizierenden E. auf dem Genter Altar der Brüder van Eyck (in Berlin). Am reichsten und vielseitigsten wurde die Darstellung der C. durch die italienische, insbes. die florentinische und venezianische Kunst des 14. und 15. Jahrh. ausgebildet (Darstellungen des Jüngsten Gerichts mit Engelchören), so daß zuletzt keine Darstellung Gott-Vaters ohne den himmlischen Hofstaat (Erschaffung des ersten Menschenpaares von Ghiberti, s. Tafel »Bildhauerkunst VII«, Fig. 8) oder der Madonna ohne dienende oder lobsingende oder mit dem Kinde spielende Engel denkbar war. Von den Florentinern haben sich besonders Fra Giovanni da Fiesole (Angelico), Botticelli (Madonna mit Engeln und das sogen. Magnifikat in den Uffizien zu Florenz) und Leonardo da Vinci (E. auf der Taufe Christi von Verrocchio, E. auf der Madonna in der Felsengrotte) in der Bildung von schönen Engelsgestalten in verschiedenen Altersstufen ausgezeichnet, von den Venezianern insbes. G. Bellini (lautespielende E. auf zahlreichen Darstellungen der thronenden Madonna) und Tizian (Himmelfahrt Mariä). Das Höchste und Vollendetste in der Darstellung der E. vom Erzengel bis zum Cherub hat aber Raffael in zahlreichen Tafelbildern (Hauptwerke: Krönung der Maria, Madonna von Foligno, Sixtinische Madonna) und Fresken (Engelchöre auf der Disputa) geleistet. Die beiden E. auf der Sixtinischen Madonna sind niemals übertroffen worden, auch von Correggio nicht, der Raffael sonst von den Italienern am nächsten gekommen ist (Himmelfahrt Mariä in der Kuppel des Domes zu Parma). Unter den deutschen Malern steht Dürer an der Spitze, der wie Raffael das ganze Gebiet umfaßt, von den strafenden Engeln der Apokalypse bis zu den Cherubim, anfangs von den Venezianern beeinflußt (Rosenkranzfest, in Prag; Madonna mit dem Zeisig, in Berlin), aber stets mit echt deutscher Naivität die E. als kindliche Gespielen des Christkindleins behandelnd. Im 17. Jahrh. sind Murillo, Rubens und van Dyck die größten in der Darstellung der E. Murillo stellt sie immer als überirdische Geschöpfe, als Himmelsboten (namentlich in den Darstellungen der unbefleckten Empfängnis) und selbst bei realistischen Beschäftigungen (die Engelküche, im Louvre) als höhere Wesen dar, während Rubens je nach dem Gegenstand das pathetische Element (Jüngstes Gericht, der Höllensturz der abtrünnigen E.) oder das naiv-realistische (Madonna im Engelkranz, München) hervortreten läßt. Dasselbe tat auch van Dyck (Beweinung des Leichnams Christi, in Antwerpen, München und Berlin; heilige Familie mit der Engelsrunde, in Petersburg und Florenz). In der Malerei der neuesten Zeit haben von Deutschen besonders F. v. Uhde (heilige Nacht, Dresdener Galerie) und W. Firle in München und W. Spatz in Düsseldorf in der Darstellung der E. neue Wege eingeschlagen.
Einen großen Raum nimmt die Darstellung der E. auch in der Skulptur des Mittelalters und der Barockzeit ein. Während in letzterer von auf- und niederschwebenden Engeln in kirchlichen und Grabbildwerken der ausschweifendste Gebrauch gemacht worden ist, hat die mittelalterliche Bildhauerkunst die E. streng der Architektur untergeordnet (Reliefs im Chor der Kathedrale von Lincoln, Engelchöre in der Kathedrale von Chartres und am westlichen Hauptportal des Kölner Domes). Die Skulptur der Renaissance leitete ihre Engelsbübchen (Putti) von den antiken Amoretten ab, wofür Donatello (tanzende E. an der Sängertribüne des Florentiner Domes) und Luca della Robbia (singende, musizierende und tanzende E. an der Orgelbrüstung des Florentiner Domes; s. Tafel »Bildhauerkunst IX«, Fig. 4) klassische Beispiele geschaffen haben. Letzterer hat auch an seinen Tonbildwerken zahlreiche C. angebracht (s. Tafel »Keramik I«, Fig. 12). Unter den deutschen Meistern sei Veit Stoß mit seinem »Englischen Gruß« (s. Tafel »Bildhauerkunst VIII«, Fig. 6) genannt. Aus neuerer Zeit ist besonders der C. mit dem Taufbecken von Thorwaldsen (in der Frauenkirche zu Kopenhagen) hervorzuheben.
http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.