- Wurzel [1]
Wurzel (Radix), eins der morphologischen Grundorgane der Pflanzen. Sie unterscheidet sich vom Sproß durch den Mangel im Blättern und durch den Besitz einer den Vegetationspunkt umhüllenden Wurzelhaube. Sie dringt in der Regel abwärts wachsend in den Boden ein, befestigt die Pflanze am Standort und führt ihr aus der Unterlage Wasser und Nährstoffe zu. Der gewöhnliche Sprachgebrauch, der unter W. fast alle in der Erde wachsenden Pflanzenteile, besonders auch den Wurzelstock (s. Rhizom), versteht, ist von dem botanischen verschieden. Echte Wurzeln kommen nur bei Pflanzen mit Leitbündeln vor, also bei Pteridophyten und Blütenpflanzen, nicht bei Moosen und Thallophyten, die nur Haarwurzeln (Rhizoiden oder Rhizinen) entwickeln, die einfache Zellfäden sind und keine Wurzelhaube besitzen. Unter den beiden erstgenannten gibt es nur wenige wurzellose Pflanzen, wie die sehr einfach gebaute Wolffia arrhiza, die ebenfalls wasserbewohnende Salvinia, unter den Orchideen Epipogon Gmelini und Corallorhiza, von Lentibulariazeen Utricularia. Die W. besitzt an der Oberfläche stets eine deutliche Oberhaut ohne Spaltöffnungen. Das Grundgewebe wird von einer meist mächtigen, aus Parenchymzellen bestehenden Rinde gebildet. Den zentralen Teil der W. nimmt in der Regel ein einziger axiler Leitbündelstrang (Zentralzylinder) ein, dessen Gefäßteil mehrere von der Mitte ausgehende radiale Streifen (Vasalstränge) bildet, zwischen denen ebenso viele mit ihnen abwechselnde Siebteile (Cribralstränge) liegen. Umgeben wird der Bündelstrang der W. von einer welligwandigen oder sklerotischen Scheide (Endodermis), die aus der innersten Schicht des Grundgewebes hervorgeht. Zwischen Scheide und Leitbündelstrang liegt ein einschichtiger, selten zweischichtiger Ring von zartwandigen Zellen (Perikambium, Perizykel), in dem die Seitenwurzeln durch Zellteilung angelegt werden. Die Wurzeln holziger Pflanzen besitzen gleich den Stämmen Dickenwachstum, und ihr Holz zeigt im allgemeinen einen ähnlichen Bau. Die jüngern Wurzeln sind bei den meisten Pflanzen in einer kurzen Zone hinter der Spitze dicht mit Wurzelhaaren bekleidet, die zwischen die kleinen Teilchen des Bodens hineinwachsen und an vielen Stellen mit ihnen fest verwachsen. Diese Organe sind hauptsächlich bei der Aufsaugung der Nahrung tätig, bilden also das Absorptionsgewebe der W. (vgl. Ernährung der Pflanzen, S. 60). Die Wurzelhaube (Wurzelmütze, Wurzelschwämmchen), eine aus parenchymatischen Zellen bestehende kappenförmige Hülle, umgibt den Vegetationspunkt der W. und wird aus demselben nach außen ergänzt, sie dient als Schutzorgan für das zarte Gewebe der in den Boden eindringenden Wurzelspitze. Wurzeln können an sehr verschiedenen Pflanzenteilen entstehen: nicht bloß an vorhandenen Wurzeln können neue sich bilden, sondern auch sehr häufig an Stengelorganen und selbst an Blättern. Der Scheitel einer neuen W. bildet sich stets im Innern eines Pflanzenteils (endogen), gewöhnlich unmittelbar im Kambium der Leitbündel, so daß die junge W. durch die Rinde hervorbricht. Bei den Phanerogamen bildet sich am untern Ende des Keimlings die erste W.; sie liegt in der Rückwärtsverlängerung des Stengels und wächst bei der Keimung in einer diesem gerade entgegengesetzten Richtung. Diese Hauptwurzel (radix primaria) wird, da sie später meist am kräftigsten u. in vertikal abwärtsgehender Richtung sich entwickelt, Pfahlwurzel (radix palaria, Fig. 1 bei p) genannt. Alle andern nicht den embryonalen Stamm nach hinten verlängernden Wurzeln heißen Neben- oder Beiwurzeln (Adventivwurzeln). Gewöhnlich verzweigt sich die Hauptwurzel, indem an ihrer Seite neue, dünnere Wurzeln hervortreten, die Seitenwurzeln (radicellae, Fig. 1 bei n) heißen. Auch diese setzen meist die Verzweigung fort, und in jedem Grade werden dünnere Wurzeln gebildet; die dünnsten der letzten Verzweigungsgrade nennt man Zaserwurzeln oder Wurzelzasern (fibrillae).
Bei manchen Dikotyledonen erhält sich die Pfahlwurzel als kräftigste W. das ganze Leben der Pflanze hindurch; oft nehmen aber früher oder später einzelne Seitenwurzeln eine gleich starke oder noch kräftigere Entwickelung an, so daß die ursprüngliche Hauptwurzel nicht mehr kenntlich ist. Pflanzen mit kriechendem Rhizom verlieren bald nach der Keimung die Hauptwurzel, und das Rhizom entwickelt Nebenwurzeln. Auch die Ausläufer und die durch Ausläufer vermehrten Pflanzen haben nur Nebenwurzeln. Bei den meisten Monokotyledonen schlägt die Hauptwurzel schon bei oder einige Zeit nach der Keimung fehl; in ihrem Umfang entwickelt sich aus den nächst untern Knoten des Stengels ein Büschel zahlreicher, verhältnismäßig dünner Nebenwurzeln, wie z. B. an den Zwiebeln und am Getreide zu sehen ist. Solchen Pflanzen schreibt man statt der Hauptwurzel eine Faser- oder Büschelwurzel (radix fibrosa oder fascicularis, Fig. 2) zu; auch der Stamm der Palmen ist nur auf diese Weise bewurzelt.
Bei Gräsern entwickelt sich auch schon die erste W. des Embryos unterhalb eines mehrschichtigen Gewebes, das bei der Keimung als sogen. Wurzelscheide (coleorrhiza) scheidenartig durchbrochen wird. Endlich können auch an beliebigen Pflanzenteilen ohne bestimmte Ordnung Wurzeln entstehen, z. B. an Blättern oder Zweigen, wenn man sie ins Feuchte bringt oder in Erde einschlägt (Blatt- und Zweigstecklinge). Nach der verschiedenen biologischen Aufgabe, welche die W. im Leben der Pflanze übernimmt, unterscheiden sich die zur Stoffaufnahme aus der Erde bestimmten Bodenwurzeln von den besonders bei tropischen Orchideen und Aroideen auftretenden Luftwurzeln, die eine eigentümliche, aus stellenweise perforierten Spiralfaserzellen gebildete Hülle (Wurzelhülle oder velamen) als Wasserspeicher besitzen. Bei Angraecum globulosum, Taeniophyllum Zollingeri u. a. übernehmen die ergrünenden Luftwurzeln (Assimilationswurzeln) sogar die Funktion der Laubblätter, die zu Schuppen verkümmert sind. Die Stämme von Pandanus, mancher Arten von Ficus und der strandbewohnenden Mangrovebäume (Rhizophora) senden abwärtswachsende Adventivwurzeln in den Boden, so daß der Stamm von einem strahligen Gestell bogenartig gekrümmter Wurzeln (Stelzwurzeln) getragen wird. Außerdem treten bei Sumpfpflanzen und Mangroven (Jussiaea, Rhizophora, Avicennia officinalis, Sonneratia acida) senkrecht aufsteigende, reich mit Durchlüftungsräumen ausgestattete Atemwurzeln auf (aërotropische Wurzeln, s. Durchlüftungsgewebe). Die zum Festhalten der Stämme an ihrer Unterlage dienenden Wurzeln (Haftwurzeln) des Efeus weichen ebenfalls ihrer besondern Tätigkeit entsprechend in ihrem Bau von den gewöhnlichen Wurzeln ab. Auch können sich die Wurzeln einiger Palmen zu Dornen oder bei Vanilla zu Ranken umwandeln. Als Reservestoffbehälter dienen die zu Rüben oder zu Knollen angeschwollenen Wurzeln (Wurzelknollen) zahlreicher perennierender Krautgewächse. Vgl. Pistohlkors, Wurzelkenntnis und Pflanzenproduktion (Bonn 1898).
http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.