- Wolfram von Eschenbach
Wolfram von Eschenbach, neben Gottfried von Straßburg und Walther von der Vogelweide der bedeutendste deutsche Dichter des Mittelalters, wurde in der zweiten Hälfte des 12. Jahrh. aus dem altadligen Geschlecht, das von dem fränkischen Städtchen Eschenbach seinen Namen führte, geboren und starb um 1220. Über seine Lebensschicksale ist wenig bekannt. Aus mehreren Andeutungen in seinen Gedichten geht hervor, daß er nicht der erstgeborne Sohn seines Hauses war und dadurch der Armut anheimfiel. Auf seinen Ritterzügen kam er an den Hof des Landgrafen Hermann von Thüringen, der damals der Mittelpunkt höfischer Ritterlichkeit und Poesie war. Hier dichtete er einen Teil des »Parzival« und wurde von Hermann mit der Bearbeitung des französischen Gedichts von Wilhelm von Orange beauftragt. Nach seinem eignen Geständnis konnte er weder lesen noch schreiben. Die wenigen Lieder Wolframs, meist Tagelieder, sind kritisch herausgegeben in Lachmanns und in Leitzmanns Ausgabe Wolframs; San Marte übersetzte sie in »Leben und Dichten Wolframs von Eschenbach« (2. Bd., 1. Buch). In allen spricht sich lebhaftes und starkes Gefühl aus. Von seinen größern Werken ist der »Parzival« (vollendet um 1210) das bedeutendste. Wolframs Quelle war nach seiner eignen Aussage eine doppelte: das uns erhaltene Gedicht des Chrétien de Troyes: »Le conte del Graal«, außerdem aber ein andres, uns unbekanntes Werk eines Provenzalen, namens Kyot. W. bezeichnet ausdrücklich Kyots Darstellung als die richtigere. Wahrscheinlich ist dieser Kyot nur von Wolfram in scherzhafter Weise erdichtet, um damit seine Abweichungen von Chrétien zu rechtfertigen. Seine Dichtung enthält in den ersten beiden Büchern die Vorgeschichte des Helden, die Geschichte von Parzivals Vater Gahmuret, der, ein jüngerer Sohn des Hauses Anjou, in heidnischen Landen eine Königin, Belakane, erwirbt. Sie gebiert ihm einen Sohn, Feirefiz; er aber, vom Drange nach Abenteuern getrieben, verläßt sie und kehrt nach Frankreich zurück, wo er in Herzeloide eine zweite Gattin findet. Auch von dieser scheidet er und zieht aufs neue zu Kämpfen gegen die Heiden aus, in denen er seinen Tod findet. Herzeloide gebiert einen Sohn, Parzival, den sie, um ihn vor gleicher Gefahr zu schützen, in der Einöde erzieht. Allein der in ihm schlummernde ritterliche Sinn treibt ihn in die Welt; er kommt an Artus' Hof, erwirbt die schöne Kondwiramur zur Gemahlin, verläßt sie aber, um seine Mutter aufzusuchen. Er gelangt ahnungslos in die Burg des Gral und unterläßt die Frage, die den verwundeten Gralkönig Amfortas erlösen sollte. In Artus' Tafelrunde feierlich aufgenommen, erfährt er durch eine Gralbotin seine Schuld, wird von ihr verflucht und zieht nun aufs neue aus, den Gral zu suchen. Durch den Einsiedler Trevrizent von seinem Zweifel an Gott bekehrt, ist er nach vielen Kämpfen, zuletzt mit seinem Freund Gawan und seinem Halbbruder Feirefiz, endlich würdig, das Gralkönigtum zu erlangen. Einen nicht unbeträchtlichen Teil des Gedichts nehmen die Abenteuer Gawans ein, welcher, der Typus eines höfischen Ritters, einen Gegensatz zu dem innerlich tiefern Parzival bildet. Die auf die höchsten Fragen des Daseins, das Verhältnis des Menschen zu Gott, gerichtete Idee des Gedichts macht es zu einem psychologischen Roman von hohem Interesse. Ein zweites Gedicht Wolframs ist der unvollendete »Willehalm«, eine Episode aus dem Leben Wilhelms des Heiligen von Orange. Seine Quelle war das altfranzösische Heldengedicht »La bataille d'Aliscans«, das nur einen Teil des großen Sagenzyklus von »Guillaume an court nez« umfaßt. Ulrich von dem Türlin (1253–1278) glaubte den »Willehalm« Wolframs durch eine Vorgeschichte ergänzen zu müssen, und Ulrich von Türheim (um 1250) dichtete die letzten Taten, die Mönchwerdung und den Tod Wilhelms hinzu, beides unbedeutende Machwerke. »Willehalm« steht hinter dem »Parzival« weit zurück. Ungleich höher steht wieder der nur in wenigen Bruchstücken vorliegende, von Wolfram selber nicht vollendete »Titurel«. Den eigentlichen Inhalt dieses Gedichts sollte wohl die Geschichte der Liebe Schionatulanders und Sigunes bilden, die schon im »Parzival« als eine liebliche Episode hervortritt. Der »Titurel« ist sicher nach dem »Parzival«, vielleicht gleichzeitig mit dem »Willehalm«, gedichtet. Bedeutend ist der Einfluß Wolframs auf spätere Dichter; schon bei Wirnt von Gravenberg macht er sich geltend. Einen besondern Aufschwung gewann sein Ruhm durch Albrecht, den Dichter des sogen. »Jüngern Titurel« (s. Albrecht 1, S. 279), der die Fragmente des »Titurel« zu einem großen Gedicht vervollständigte, das unter Wolframs Namen ging. Noch im 15. Jahrh. waren »Parzival« und »Titurel« gelesen und wurden bereits 1477 gedruckt. Dann für Jahrhunderte verschollen, wurden erst in der Mitte des 18. Jahrh., namentlich durch Bodmer und Breitinger, Wolframs Dichtungen wieder bekannt; doch sagte weder des erstern moderne Bearbeitung des »Parzival« (Zürich 1753) noch die des »Wilhelm von Orange« in Hexametern dem Geschmack des größern Publikums zu. Erst das 19. Jahrhundert erhob W. wieder zu der ihm gebührenden Ehrenstelle. Vor allem eröffnete Lachmann ein richtigeres und tiefer greifendes Verständnis des »Parzival« in seiner »Auswahl aus den hochdeutschen Dichtungen des 13. Jahrhunderts« (Berl. 1820). Auch die erste kritische Ausgabe von Wolframs Werken lieferte Lachmann (Berl. 1833, 5. Ausg. 1891), eine Textausgabe Leitzmann (Halle 1902–06). Den »Parzival« und »Titurel« gab Bartsch mit erklärenden Anmerkungen (2. Aufl., Leipz. 1875–77, 3 Bde.), Martin mit ausführlichem Kommentar (Halle 1903, 2 Bde.) heraus. Neuhochdeutsche Übersetzungen besorgten San Marte (in »Leben und Dichten Wolfram von Eschenbachs«, Magdeb. 1836–1841, 2 Bde.; 3. Aufl., Halle 1886, 2 Bde., und »Wilhelm von Orange«, das. 1873) und Simrock (»Parzival und Titurel«, Stuttg. 1842, 2 Bde.; 6. Aufl. 1883); die weitaus beste, jedoch nicht ganz vollständige lieferte Wilhelm Hertz (das. 1898, 4. Aufl. 1906). Vgl. Bötticher, Die Wolfram-Literatur seit Lachmann (Berl. 1880); Panzer, Bibliographie zu W. (Münch. 1896).
http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.