Bettelwesen

Bettelwesen

Bettelwesen. Beurteilung und Behandlung der Bettelei ist von jeher verschieden gewesen je nach dem Stande der Kultur und der Entwickelung des Armen wesens. Instinktiv pflegt man im Bettler zunächst einen beklagenswerten und unglücklichen Menschen zu sehen. Wo, wie bei orientalischen Völkern, das Almosengeben dem Einzelnen als religiöse Pflicht auferlegt wird, kann der Bettler selbst, der den Reichen an seine Gewissensschuld erinnert, nicht getadelt werden. Selbst bei den Griechen stellte der alte Volksglaube die Bettler unter den Schutz des Zeus Hiketesios. Innerhalb der christlichen Kirche übte die asketische Richtung einen bedeutenden Einfluß auf die Behandlung des Bettelwesens. Einerseits galt es als verdienstlich, sich seines weltlichen Besitztums zu entschlagen, weil Christus die Armut gepriesen und dem Reichen den Eingang in das Himmelreich erschwert sah; anderseits betrachtete die Kirche selbst sich berufen, zum Zweck der Almosenspendung die Errichtung frommer Stiftungen tunlichst zu befördern. Die Verdienstlichkeit der Armut und die Ehrenhaftigkeit der Bettelei kamen in den Bettelorden zum schärfsten Ausdruck (vgl. Bettelmönche). Im Mittelalter dagegen gab die durch die ziellose Armenpflege bewirkte Zunahme des Proletariats zu einem scharfen Vorgehen gegen das B. Veranlassung. Man begann daher, durch polizeiliche Anordnung (Bettlerordnungen) den unberechtigten Bettel unter Androhung strenger Strafen zu unterdrücken, indem man anderseits bei gewissen hilflosen und gebrechlichen Personen durch Ausstellung obrigkeitlicher Bettelbriefe ein Recht auf Mildtätigkeit anerkannte. Die modernen Anschauungen wiederum sind von unbilliger Härte ebenso weit entfernt wie von kurzsichtiger Duldung. Zwar erkannte man, daß Bettelei mit der öffentlichen Ordnung unvereinbar ist, das Gefühl wirtschaftlicher Selbstverantwortlichkeit und den Trieb zur Arbeit beeinträchtigt, die Begehung von Eigentumsverbrechen begünstigt, das Ehrgefühl abstumpft, also nicht geduldet werden darf, doch hatte man auch eingesehen, daß durch Strafgesetze allein dem B. nicht zu begegnen ist. Vorbedingung für die Ausrottung der Bettelei ist eine zweckmäßige Organisation der Armenpflege, die die wirklich Bedürftigen der Notwendigkeit enthebt, sich an die Mildtätigkeit der Einzelnen zu wenden. Neben den Anstalten der öffentlichen Armenpflege mögen dann Vereine bemüht sein, in Fällen der Würdigkeit milde Gaben an die richtige Stelle zu leiten Mit Rücksicht auf die besondere Erscheinungsform der Bettelei unterscheidet man: Hausbettel, der vielfach zur Bemäntelung von kleinen Gelegenheitsdiebstählen dient, Straßenbettel, Wanderbettelei (Vagabundentum), gewerbsmäßigen und betrügerischen Bettel. Unter den seßhaften Bettlern sind die sogen. verschämten Armen, die durch Bettelbriefe namentlich Personen von bekannten Namen und hoher Stellung belästigen und durch geschickten Betrieb oft ein ansehnliches Vermögen erwerben, und die Krüppel oder Invaliden, die an Kirchtüren, auf Brücken, in Straßen oder an andern belebten Punkten ihre festen Plätze einnehmen, die Hauptabarten. Die letztern mieten kranke Kinder, namentlich solche mit ekelerregenden Geschwüren, halten Wunden durch den scharfen Saft sogen. Bettlerkräuter (Clematis-, Ranunculus-Arten) offen oder erzeugen künstliche Ausschläge und heucheln die verschiedensten Leiden. Unter den fahrenden Bettlern unterscheidet man die Schnorrer, jüdische Bettler, die nur bei Juden vorsprechen, und die eigentlichen Handwerksburschen, die nur das Handwerk begrüßen, von den Fechtbrüdern, die wie die Kinder am Berchtenfest Gaben sammelnd von Haus zu Haus ziehen (altdeutsch: Bechten gehen, daher fechten). Unter den letztern unterscheidet man als ehrliche Bettler: Knopfdalfer (Pfennigbettler), die jedem die Hand hinhalten, Schmalmacher, die vorzugsweise Spaziergänger und Gasthofsgäste heimsuchen, Blitzkunden, die um abgelegte Sachen bitten, und als unehrliche oder Schwindelbettler: die Tappenreiter, die sämtliche Handwerkssprüche kennen und »sämtliche Krauter (Meister) ledern«, die an ihrer Straße wohnen, aber nie Arbeit nehmen, Hochtäppler, die Brandunglück und Überschwemmung vorgeben, Krankheiten vorspiegeln etc., und Zoddelbrüder oder Drucklashennen, die nur Gelegenheit zum Stehlen suchen; vgl. Hochstapler. Das deutsche Strafgesetzbuch bestraft Bettelei als Polizeiübertretung mit Hast (§ 36 1); gewohnheitsmäßige Bettler und solche, die unter Drohungen oder mit Waffen gebettelt haben, können nach verbüßter Hast bis zu 2 Jahren in ein Arbeitshaus eingesperrt werden (§ 362). Den selbst Bettelnden sind diejenigen gleichgestellt, die Kinder zum Betteln anleiten oder ausschicken, oder die ihrer Aussicht untergebenen, zu ihrer Hausgenossenschaft gehörigen Personen vom Betteln abzuhalten unterlassen. Bettelei unter Vorspiegelung körperlicher Gebrechen oder unter Behauptung falscher Tatsachen wird als Betrug durch die Gerichte geahndet. In Österreich wird nach dem Gesetz vom 24. Mai 1885 derjenige, der geschäfts- und arbeitslos umherzieht und nicht nachzuweisen vermag, daß er die Mittel zu seinem Unterhalt besitze oder zu erwerben suche, als Landstreicher mit strengem Arrest von 1–2 Monaten, ferner derjenige, der an öffentlichen Orten oder von Haus zu Haus bettelt oder aus Arbeitsscheu die öffentliche Mildtätigkeit in Anspruch nimmt, sowie derjenige, der Unmündige zum Betteln verleitet, ausschickt oder andern überläßt, mit strengem Arrest von 8 Tagen bis 3 Monaten bestraft. Das Gericht kann im Falle der Verurteilung die Zulässigkeit zur Anhaltung zur Arbeit in einer Zwangsarbeitsanstalt aussprechen. Weiteres s. in den Artikeln: »Armenwesen, Arbeitshäuser und Arbeiterkolonien«. Vgl. Turner, History of vagrants, etc. (Lond. 1887); Uhlhorn, Die christliche Liebestätigkeit (2. Aufl., Stuttg. 1895); v. Hippel, Die strafrechtliche Bekämpfung von Bettel, Landstreicherei und Arbeitsscheu (Berl. 1895).


http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.

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