- Seekultus
Seekultus, die Verehrung der als Beherrscher der stehenden Gewässer angenommenen Naturmächte durch Anrufungen, Weihgaben und Opfer. Cicero erwähnt die Sitte, dem Meere nach erfolgreicher Fahrt ein Opfer zu schlachten; die heidnischen Norweger opferten dem Meer, um günstigen Wind für die Schifffahrt zu erhalten. Es ist hier zwischen Meer- und Landseenkultus zu unterscheiden, sofern in den Meergöttern meist nur die der Schiffahrt freundlichen oder feindlichen Gewalten, die Personifikationen der Stürme, Ungewitter, Wellen, Strudel, Klippen etc., in Betracht kamen. Die Zersplitterung in zahlreiche Meergötter machte den Meereskultus bei den Griechen zu einem sehr zusammengesetzten Tempeldienst, wenn auch die oberste Gewalt in den Händen des in allen Hafenstädten verehrten Poseidon oder Neptunus blieb, dem in Indien Varuna, im germanischen Norden Ägir entsprach. Als oberste Schützer in Seenöten wurden bei den klassischen Völkern die im Elmsfeuer auf den Masten sichtbar werdenden Dioskuren angerufen, an deren Stelle später christliche Heilige, St. Elmo (Erasmo), St. Nikolas von Bari u. a., traten. Ägypter und Phöniker führten kleine Zwerggötter (Patäken, Kabiren, Kanoben) als Schutzgötter auf den Fahrzeugen. Als Patronin der Schifffahrt galt auch die Isis, welche die Segel erfunden haben sollte, in den germanischen Ländern die Holda und Nehalennia sowie die heil. Gertrud, und diesen Beschützerinnen zu Ehren wurde noch im mittelalterlichen Europa die Eröffnung der Schiffahrt durch feierliche Prozessionen mit einem auf Räder gestellten, geschmückten Schiffe begangen. An ihre Stelle trat später die als Stern des Meeres angerufene heilige Jungfrau; in Frankreich wallfahrten die Seeleute zu den Strandkirchen ihrer Mutter, der heil. Anna. – Der S. im engern Sinne, der sich meist an einsamen Waldseen vollzog, richtete sich an die Mächte der Tiefe, den Mutterschoß der Erde, aus dem Leben und Fruchtbarkeit emporsprießt, um nach dem Absterben dahin zurückzukehren, und war daher bei den meisten alten Völkern mit dem Kultus der Erdmutter, der Fruchtbarkeits- und Totengöttin, eng verbunden. Die Tempel der Mutter An bei den Assyrern, der Anaitis in Syrien, der Kybele in Phrygien, der Buto in Ägypten, der Artemis in Taurien und Griechenland, der Diana in Italien, der Hertha (Nerthus) bei den Germanen etc. waren am Ufer solcher Waldseen oder in Verbindung mit einem künstlich ausgegrabenen See angelegt. An bestimmten Jahresfesten wurde das Tempelbild der Göttin in Prozession zu dem See geführt und darin gebadet; damit scheinen, namentlich im Artemis- und Herthakultus, sehr häufig Menschenopfer, die im heiligen See ertränkt wurden, verbunden gewesen zu sein. Später traten an die Stelle der Menschenopfer Weihgaben aus Wertgegenständen, die in den See geworfen wurden, wobei man es als günstiges Zeichen nahm, wenn die in kostbare Stoffe eingehüllten Gold-, Silber- und sonstigen Weihgaben im See des Anaitistempels zu Aphaka (im Libanon) sogleich untersanken. An Bergseen knüpfte sich schon in Griechenland und Indien der Glaube, daß aus ihnen das Regengewölk aufsteige, so daß man in trockenen Zeiten dorthin wallfahrtete; wer aber diese stillen Wässer aus Mutwillen, z. B. durch einen hineingeworfenen Stein u. dgl., beunruhigte, rief schwere Unwetter hervor. Nachklänge davon kommen in zahlreichen mittelalterlichen Sagen, wie in der Pilatussage, der Dichtung von Iwein und der Fee von der Quelle von Breziliane etc., vor. Ein ähnlicher S. hat wohl in den Pfahlbau-Ansiedelungen von ganz Europa stattgefunden, darauf deuten die massenhaften ungebrauchten Gold- und Bronzegegenstände, Schmucksachen u. dgl., die man an bestimmten Stellen der Pfahlbauten und auch sonst im alten Seeboden findet. Dahin hat man auch die zahlreichen tönernen Mondsicheln gedeutet, die man neben Bronzeschmucksachen bei Niedau am Bieler See fand. Überreste des alten S. haben sich z. B. in der auf die Menschenopfer beziehbaren Redensart: »Der See will sein Opfer haben!« erhalten. Der Nixe des sehr tiefen Blautopfes bei Blaubeuren soll noch 1641 ein goldener Becher geopfert worden sein, um sein stürmisches, die Umgebung mit Überschwemmung bedrohendes Aufwallen zu besänftigen. Auch der Ring des Polykrates und das Ringopfer des Dogen der aus einem Pfahlbau entstandenen Stadt Venedig waren wohl Überreste des alten S.
http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.