Sankt Gallen [2]

Sankt Gallen [2]

Sankt Gallen, Hauptstadt des gleichnamigen schweizer. Kantons und Bezirks, an der Steinach, in einem Hochtal, 670 m ü. M., an der Eisenbahn Rorschach-Winterthur. Sie entstand um das berühmte Kloster. Die ehemaligen Klostergebäude (sie bilden eine Enklave der Nachbargemeinde Tablat) sind außer den bischöflichen Räumlichkeiten in Regierungslokale, Schulen, Wohnungen etc. umgewandelt.

Stadtwappen von Sankt Gallen.
Stadtwappen von Sankt Gallen.

Zusammen mit der doppelt getürmten, gewaltigen Kathedrale (Stiftskirche, 1756 bis 1767 im Rokokostil erbaut), dem Zeughaus, der Kinderkapelle etc. umstehen dieselben den umfangreichen, viereckigen Klosterhof. Noch immer beherbergen sie die berühmte Stiftsbibliothek (s. oben). In der Nähe des Klosters erhebt die reformierte Hauptkirche St. Laurenz (1850–54 restauriert) ihren schlanken gotischen Turm. Andre sehenswürdige Gebäude sind: das Rathaus, das Bürgerspital, die Unionbank, das Gewerbemuseum, die Helvetia, das Kantonsspital, das Kantonsschulgebäude auf dem Brühl mit der Bürgerbibliothek (s. oben) und den Sammlungen der Ostschweizerischen Geographischen Kommerz-Gesellschaft, das Museum mit naturhistorischen Sammlungen, den Sammlungen des Historischen Vereins und der Gemäldesammlung des Kunstvereins, die Strafanstalt St. Jakob, die neuen Kirchen in St. Leonhard und im Linsenbühl, das Postgebäude bei dem Bahnhof. An die 1895 vollendete Wasserversorgung aus dem Bodensee erinnert der Broderbrunnen (Monument von Bösch); den Marktplatz schmückt das Vadiandenkmal. Die Zahl der Einwohner betrug 1900: 33,519 (1905 ca. 35,000), davon 17,572 Reformierte, 15,006 Katholiken und 419 Juden. Dem gewaltigen Handel und der Industrie dienen die Börse, 14 Bankinstitute (darunter die Bank in S. und die St. Galler Kantonalbank mit 9, bez. 8 Mill. Fr. Aktienkapital), das kaufmännische Direktorium, die 1899 eröffnete städtische Handelsakademie, das Gewerbemuseum, Schule für Stickereizeichner, Frauenarbeitsschule. Als Zentrum der Stickerei der Ostschweiz und Vorarlbergs steht die Stadt mit der ganzen Welt in enger Verbindung und ist zugleich Hauptmarkt für Appenzell und Thurgau. S. hat treffliche Schulen (Gymnasium s. oben, Mädchen- und Knabenrealschule) und mehrere große Vereine. Zahlreiche Werke der Gemeinnützigkeit zieren die lebhafte, auf den Höhen des Rosen- und Freudenbergs mehr und mehr mit Villen bedeckte Stadt. Lohnende Ausflüge führen auf den Freudenberg (Drahtseilbahn), auf Peter und Paul mit dem Wildpark, zur Falkenburg und auf die Solitüde. Vgl. Henne am Rhyn, S. und seine Umgebung (2. Aufl., Linz 1894); »Führer des Verkehrsvereins«, 1905; Falkner und Ludwig, Beiträge zur Geologie der Umgebung von S. (St. Gallen 1904).

Geschichte der Stadt und des Kantons St. Gallen.

Die Stadt S. ist aus dem Kloster und dieses aus der Zelle des heil. Gallus hervorgegangen, der sich hier 613 als Einsiedler niederließ. Das Kloster, 720 vom heil. Othmar gegründet, erhielt unter Pippin die Regel des heil. Benediktus, Ludwig der Fromme erklärte es für unabhängig vom Gaugrafen und Bischof, und mit Abt Gozbert (816–837), dem Gründer der berühmten Bibliothek, begann seine literarische und künstlerische Blütezeit. Nach einem noch erhaltenen Bauriß von 830 zählte es 40 Firste, und durch den Musiker Notker Balbulus, den Bildschnitzer Tuotilo, den Sprachforscher Notker III, die als Dichter und Chronisten berühmten Ekkeharde u.a. erhob sich die Klosterschule zu einer der ersten des Reiches. Gegen Ende des 11. Jahrh. verblich dieser literarische Glanz. Die Äbte wurden kriegerische Reichsfürsten, deren Tätigkeit in Fehden mit den benachbarten Dynasten und in der Teilnahme an den Reichskriegen ausging. Ihr Gebiet bildete zwischen Bodensee und Säntis ein geschlossenes Territorium und umfaßte außerdem manche zerstreute Besitzung jenseit des Rheins und Bodensees. Aber im 14. und 15. Jahrh. drohte das geistliche Fürstentum von innen heraus zu zerfallen. Nicht nur die Appenzeller, auch die Behörden der allmählich um das Kloster entstandenen, im 10. Jahrh. mit Mauern umgebenen und durch das Leinwandgewerbe blühenden Stadt S. emanzipierten sich von der geistlichen Herrschaft. Nachdem ihr Rudolf von Habsburg 1281 die Unveräußerlichkeit der Reichsvogtei zugestanden, beseitigte sie durch Einführung einer Zunftverfassung 1353 den Einfluß des Abtes auf die städtische Regierung, erwarb 1415 mit dem Blutbann und Münzrecht die völlige Autonomie und wurde 13. Juni 1454 als zugewandter Ort in den ewigen Bund der Eidgenossen aufgenommen, unter deren Vermittelung sie sich 1457 durch Bezahlung von 7000 Gulden von allen Ansprüchen des Abtes für immer befreite. Inzwischen war auch der Abt 17. Aug. 1451 durch ein ewiges Schutzbündnis mit Zürich, Luzern, Schwyz und Glarus ein zugewandtes Glied der Eidgenossenschaft geworden. 1468 vermehrte sich der Besitz des Klosters durch die Erwerbung der Grafschaft Toggenburg. Ein Versuch des Abtes, seinen Sitz nach Rorschach zu verlegen, scheiterte an dem Widerstand der St. Galler und Appenzeller, die den Neubau zerstörten; ein sich daran schließender Aufstand der Gotteshausleute wurde durch die vier Schirmorte der Abtei unterdrückt, die auch der Stadt S. und Appenzell schwere Kriegsentschädigungen auferlegten (Rorschacher Klosterbruch 1489–90). Die Reformation erlangte unter dem Einfluß des berühmten Humanisten Vadian (Joachim von Walt) 1528 in der Stadt S. den völligen Sieg; unter Zürichs Schutz traten auch die Gotteshausleute und Toggenburger dazu über und kündigten dem Abte den Gehorsam, der mit den Mönchen entfloh, worauf Zürich und Glarus 1530 das Kloster der Stadt verkauften. Nach der Schlacht von Kappel (1531) wurde jedoch das geistliche Fürstentum wiederhergestellt und die Untertanen zum alten Glauben zurückgebracht; nur den Toggenburgern wurde Religionsfreiheit zugesichert. Die mannigfachen Verletzungen derselben sowie andrer verbriefter Rechte reizten die Toggenburger 1703 zu einem Aufstand, der sich durch die Parteinahme Zürichs und Berns gegen und der katholischen Orte für den Abt 1712 zu dem als Toggenburger oder zweiten Vilmerger Krieg bekannten schweizerischen Religionskampf erweiterte. Die Züricher und Berner besetzten die St. Gallische Landschaft. Im Frieden von Aarau (11. Aug.) mußten die Katholiken ihnen die Ordnung der toggenburgischen Verhältnisse überlassen, worauf der Abt im Vertrag zu Baden 1718 die Verwaltung seiner Lande zurückerhielt, aber unter Anerkennung voller Glaubensfreiheit und bedeutender politischer Rechte der Toggenburger. Nachdem die Gotteshausleute schon 1795 die Aufhebung der Leibeigenschaft und 1797 Anteil am Regiment erzwungen hatten, machte das Einrücken der Franzosen in die Schweiz 1798 der äbtischen Herrschaft selbst ein Ende. Der letzte Fürstabt Pankraz flüchtete mit den meisten Kapitularen nach Deutschland. Die helvetische Verfassung verschmolz die Stadt und das Gebiet des Abtes mit Appenzell und Rheintal zu einem Kanton Säntis. Die Mediationsakte schuf 1803 den heutigen Kanton S., indem sie mit der Stadt und dem äbtischen Gebiete die ehemaligen gemeinen Herrschaften Rheinthal, Sargans, Rapperswil, Gaster und Uznach sowie die zürcherische Herrschaft Sax und die glarnersche Werdenberg vereinigte. 1805 hob der Große Rat des Kantons das Kloster in aller Form auf und teilte sein Vermögen in ein »souveränes« Gut, das zum Staatsvermögen geschlagen wurde, und ein »katholisches« Gut, das teils zur Dotierung der Stiftskirche, zur Pensionierung der Mönche und zur Errichtung eines katholischen Gymnasiums verwendet, teils als Schatz der »katholischen Religionspartei« von einem katholischen Administrationsrat verwaltet wurde. 1814 behauptete der junge Kanton seine Existenz gegen die Intrigen des entthronten Fürstabts und gegen die Sondergelüste der einzelnen Landschaften; dagegen wurde für Kirchen-, Ehe- und Schulsachen eine völlige Trennung nach Konfessionen durchgeführt, so daß neben dem allgemeinen Großen Rat ein katholischer und ein evangelischer bestand. 1830–31 änderte ein »Verfassungsrat« das oligarchische Gepräge der bisherigen Verfassung in demokratisch-liberalem Sinn und führte das Volksveto ein. 1836 wurde S. Sitz eines apostolischen Vikars, der 1847 zum Bischof erhoben wurde. Seit 1849 strebten die Liberalen energisch nach Beseitigung des konfessionellen Dualismus; eine liberale Mehrheit im katholischen Administrationsrat ermöglichte 1856 die Verschmelzung der katholischen Kantonsschule mit der höhern Lehranstalt der Stadt in eine gemeinsame Kantonsschule, und 1861 kam nach heftigen Stürmen eine Revision der Verfassung zustande, die das Erziehungswesen ganz dem Staat übergab, dagegen in kirchlichen Dingen den Konfessionen volle Freiheit ließ. Durch eine Partialrevision wurde 1875 das Veto in ein besser organisiertes fakultatives Referendum verwandelt. Von den seit 1861 in Mehrheit befindlichen Liberalen trennte sich allmählich der linke Flügel als besondere demokratische Partei ab, die sich mit den Ultramontanen zu gemeinsamer Opposition gegen jene verband. Die verbündeten Ultramontanen und Demokraten setzten eine am 16. Nov. 1890 vom Volke sanktionierte Verfassungsrevision durch, welche Volkswahl der Regierung, Erleichterung des fakultativen Referendums und Volksinitiative für Gesetze einführte. 1898 beschloß der Große Rat die Errichtung einer Verkehrsschule und einer Handelsakademie. Vgl. außer den oben angeführten Werken: v. Arx, Geschichte des Kantons S. (St. Gallen 1810–13, 3 Bde.; Berichtigungen und Zusätze 1830); Baumgartner, Geschichte des schweizerischen Freistaats und Kantons S. (Bd. 1 u. 2, Zürich 1868; Bd. 3, Einsied. 1890); Henne am Rhyn, Geschichte des Kantons S. (St. Gallen 1863; Fortsetzung, das. 1896); Weidmann, Geschichte des ehemaligen Stifts und der Landschaft S. unter den zwei letzten Fürstäbten (das. 1834); Dierauer, Geschichte des Kantons S. in der Mediations-, Restaurations- und Regenerationszeit (das. 1877–78 u. 1902), Politische Geschichte des Kantons S. 1803–1903 (das. 1904), Die Stadt S. 1798–1799 (das. 1899–1900) und St. Gallische Analekten (das. 1889 ff.); Fehr, Staat und Kirche im Kanton S. (das. 1899); Gmür, Die verfassungsgeschichtliche Entwickelung der Stadt S. (das. 1900); »Der Kanton S. 1803–1903«, Denkschrift (das. 1903); »Beiträge zur St. Gallischen Geschichte« (das. 1904); »Urkundenbuch der Abtei S.« (bearbeitet von Wartmann: Bd. 1 und 2, Zürich 1863–66; Bd. 3 u. 4, St. Gallen 1875 bis 1899; Bd. 5 von Bütler u. Schieß, das. 1904 ff.); »St. Gallische Gemeindearchive« (St. Gallen 1878–1897, 3 Tle.); »Mitteilungen zur vaterländischen Geschichte« (1862 ff.; darin die »St. Gallischen Geschichtsquellen«, hrsg. von Meyer v. Knonau, 1870–81, 5 Bde.) und »St. Galler Neujahrsblätter« (1861, beide hrsg. vom Historischen Verein zu S.); Wartmann, Industrie und Handel des Kantons S. auf Ende 1866 (das. 1875) und für 1867–90(2 Tle., das. 1887 u. 1897).


http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.

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