Ruhr [1]

Ruhr [1]

Ruhr (Dysenteria, Blutzwang), eine schwere Krankheit, die sich anatomisch als diphtheritische, d.h. mit Membranbildung und oft brandiger Abstoßung der Oberfläche einhergehende Entzündung der Dickdarmschleimhaut charakterisiert. Die R. ist keine einheitliche Erkrankung; es gibt zahlreiche Formen, unter denen die auch ursächlich verschiedenen Arten der epidemisch und der endemisch auftretenden R. besonders zu unterscheiden sind. Auch sporadisch tritt die R. auf. Die epidemische R. kommt in größern oder kleinern Seuchen vor, besonders da, wo unter ungünstigen hygienischen Verhältnissen große Ansammlungen von Menschen stattfinden. Die R. ist daher vor allem eine gefährliche Kriegs- und Lagerseuche in allen Zeiten und Ländern gewesen. In Europa waren seit längerer Zeit nur kleinere Epidemien in Kasernen, Gefängnissen u. dgl. beobachtet worden, als 1892 eine Ruhrepidemie in Gelsenkirchen ausbrach, die seitdem fast jeden Sommer von neuen Ausbrüchen im rheinisch-westfälischen Industriebezirk gefolgt war. Die epidemische R. wird höchstwahrscheinlich durch Bazillen hervorgerufen, wenigstens haben sowohl Shiga in Japan als auch Kruse in Ruhrort gut übereinstimmende Bazillenbefunde bei Ruhrepidemien erhoben. Jedoch sollen in manchen Epidemien (in Ostpreußen) auch Amöben als Erreger der R. nachgewiesen sein; es handelt sich dabei aber vielleicht nur um Einschleppung der endemischen R., die stets durch Amöben hervorgerufen wird. Dieselbe wird daher auch vielfach als Amöbendysenterie, oder, weil vorwiegend in den Tropen zu Hause, als tropische R. bezeichnet. Die Amöben, kleine einzellige, frisch entleert sich bewegende Gebilde, unterscheiden sich von ähnlichen bei Gesunden vorkommenden Organismen durch ihre krankmachende Wirkung auf Katzen; sie dringen in die verschwärten Darmwandungen ein und finden sich in großen Mengen in der Leber bei komplizierenden Leberabszessen. Die sporadische R. scheint durch verschiedene Schädlichkeiten hervorgebracht zu werden (Vergiftungen, verschiedene Bazillen, Amöben). Wie die Erreger der epidemischen und tropischen R. in den Körper gelangen, ist nicht sicher bekannt; vielleicht durch unreines Trinkwasser. Von Person zu Person steckt die R. nicht an; dagegen wird sie wahrscheinlich durch die Darmentleerungen der Ruhrkranken, bez. durch die mit den erstern beschmutzte Wäsche u. dgl. übertragen. Die Krankheit wird 3–8 Tage nach der Ansteckung durch Verdauungsstörung, Appetitlosigkeit, leichte Kolikschmerzen und Durchfall fast ohne Stuhlzwang eingeleitet. Je häufiger aber die Durchfälle aufeinander folgen, um so heftiger und anhaltender werden die kolikartigen Schmerzen, die einige Zeit vor der Ausleerung beginnen und kurz vor deren Eintritt eine quälende Höhe erreichen. Die Entleerungen selbst sind von einem überaus schmerzhaften Drängen auf den Mastdarm (Tenesmus) begleitet, wozu sich häufig Harnzwang gesellt. Es werden dabei immer nur geringe Mengen schleimiger, hellgrau gefärbter (weiße R.) oder schleimig-blutiger Massen (rote R.), zuweilen auch reines Blut entleert. Unmittelbar nach der Entleerung fühlt sich der Kranke erleichtert und hat nur Schmerz bei Druck auf den Leib; bald aber beginnt der Leibschmerz von neuem, es tritt wieder Stuhlzwang und eine Entleerung ein. Dies wiederholt sich in 24 Stunden wohl 20–3011101. Im Verlauf der Krankheit gesellen sich allemal Fiebererscheinungen hinzu. Selbst bei den leichtesten Graden der R. werden die Kranken durch den beträchtlichen Säfteverlust, durch die Schmerzen und die Schlaflosigkeit sehr angegriffen; sie bekommen ein bleiches Ansehen, der anfangs volle Puls wird klein, die Stimmung sehr niedergeschlagen, die Mattigkeit sehr groß; die Kranken erholen sich äußerst langsam. Bei den höhern Graden der R., wo alle Symptome vom Unterleib her heftiger werden, ist der Puls sehr frequent und wird bald klein. Das Allgemeinbefinden ist schwer gestört, es ist starkes Fieber, völlige Appetitlosigkeit, trockne Zunge, höchste Entkräftung und mutlose Stimmung, oft auch Benommenheit der Sinne und leichtes Delirium vorhanden. Tritt hierbei der Tod an Entkräftung ein, so findet sich die Schleimhaut des Dickdarms in großer Ausdehnung durch flache diphtheritische Geschwüre zerstört, zuweilen brandig abgestorben und verschorft. Die Milz ist geschwollen, Nieren und Leber zeigen die sogen. trübe Schwellung und fettige Entartung. Geht die Krankheit in die chronische Form über, so hört das Fieber auf, es wechseln Durchfälle mit Verstopfung ab; zuweilen wird aber auch noch eine eiterige Flüssigkeit entleert, weil die Verschwärung der Darmschleimheit fortschreitet. Die Kranken magern im höchsten Grad ab und gehen dabei nach monatelangem Siechtum zugrunde. Heilen aber in so schweren Fällen die mit Substanzverlust verbundenen Geschwüre, so kann oft der Geheilte für den Rest seines Lebens an habitueller Verstopfung und deren lästigen Folgen leiden. In den heißen Ländern gesellen sich zur R. häufig Leberabszesse, denen die Kranken erliegen. Die einzelnen Ruhrepidemien sind nach ihrer Schwere verschieden; in manchen Fällen erfordern sie nur wenige Opfer, in andern, namentlich bei lange kampierenden Heeren und belagerten Städten, erreichen sie eine sehr starke Mortalität. Um die Verbreitung der R. zu verhüten, sind die von Ruhrkranken benutzten Gegenstände, namentlich Betten und Wäsche, sorgsam zu desinfizieren. Ihre Entleerungen müssen in besondere Gruben geschüttet und die von den Kranken benutzten Stechbecken von vornherein mit einer desinfizierenden Lösung (Sublimat, Borsäure etc.) versehen werden. Alle Schädlichkeiten, welche die Disposition für die R. steigern, namentlich Diätfehler müssen bei den Gesunden sorgfältig vermieden und die geringsten Darmkatarrhe auf das genaueste überwacht werden. Man ordne das Tragen von Leibbinden an und warne vor dem Genuß nicht ganz reifer, sehr wässeriger, im Leibe leicht in Gärung übergehender Früchte (Gurken, Melonen). Wo das Trinkwasser nicht völlig einwandfrei ist, darf nur abgekochtes, oder durch bakteriendichte Filter filtriertes Wasser getrunken werden. Was die Behandlung der R. selbst betrifft, so ist zunächst der Darm durch milde Abführmittel (Calomel, Ricinus) zu entleeren. Der Kranke muß unbedingt das Bett hüten, darf nichts Festes, sondern nur Suppen und Milch genießen, bei schwachen Kranken muß von vornherein für Erhaltung der Kräfte durch konzentrierte Fleischsuppen, Wein etc. gesorgt werden. Die Applikation von warmen Leibumschlägen leistet gegen die Schmerzen gute Dienste. Kur Einschränkung der Zersetzungsvorgänge im Darm hat man milde, desinfizierende Mittel einzunehmen empfohlen (Naphthalin). Eine direkte Wirkung auf den Krankheitsprozeß wird der Iperacuanhawurzel nachgerühmt; die Tropenärzte verichten über gute Erfahrungen mit Simacuba mit oder ohne Granatwurzelrinde. Zu empfehlen sind hohe Einläufe mit Gerbsäurelösungen (Enteroklyse). Diese sind auch bei der Behandlung chronischer Fälle wertvoll; bei denen auch große Gaben von salizylsaurem und salpetersaurem Wismut empfohlen werden. Der quälende Stuhldrang bei akuter R. wird durch Darreichung von Opium (in Stuhlzäpfchen) gemildert. Vgl. Kartulis, Dysenterie (in Nothnagels »Spezieller Pathologie und Therapie«, Bd. 5, Wien 1896); Kruse, Über die R. als Volkskrankheit und ihren Erreger (in der »Deutschen medizinischen Wochenschrift«, Berl. 1900); Lenz, Dysenterie (in Kolle und Wassermanns »Handbuch der pathogenen Mikroorganismen«, Jena 1902). – Über die Kälberruhr s. d. und White scour. – Bei den Bienen heißt R. die Entleerung des Kotes im Stock während der kältern Jahreszeit. Gewöhnlich behalten die Bienen den Kot bei sich; ist ihnen dies unmöglich, so beschmutzen sie sich und die Waben, und ganze Völker gehen zugrunde. Man gibt den Bienen bei R., sobald ein warmer Tag kommt, unter den Bau erwärmten Honig mit einigen Tropfen Rum oder Wein und reinigt die Wohnung und die Waben während des Ausfluges der Bienen. Auch führt man das ganze Verfahren im frostfreien Zimmer aus.


http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.

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