Reformkatholizismus

Reformkatholizismus

Reformkatholizismus, Kollektivbezeichnung für die weitverzweigte fortschrittliche Bewegung innerhalb der römisch-katholischen Kirche, die als innerkirchliche Opposition die zunehmende Romanisierung des Katholizismus durch die kulturfeindlichen Einflüsse des die Leitung der Kirche beherrschenden Jesuitenordens bekämpft. Der R. ist hervorgerufen teils durch vorvatikanische liberale Traditionen, teils durch die Ergebnisse der modernen protestantischen Theologie, teils durch die immer mehr sich aufdrängende Überzeugung von der Inferiorität der Katholiken auf allen Gebieten des öffentlichen und wissenschaftlichen Lebens. Um den Katholizismus zu einem lebenskräftigen Kulturfaktor in der modernen Welt zu machen, verlangt der R. einerseits rückhaltlosen Verzicht auf das mittelalterliche Weltbild und die daraus stammenden Prinzipien und Methoden der scholastischen Philosophie und der kirchlich approbierten Wissenschaft, Revision des Index und des Syllabus, Aufgabe oder doch Zurückstellung der kirchenpolitischen Ansprüche gegenüber dem modernen Staat, Eindämmung des durch die Orden geförderten Aberglaubens in Kultus und Frömmigkeit (Lourdes, Verehrung des heil. Antonius von Padua, des heil. Herzens Jesu etc.), anderseits positive Mitarbeit auf allen Gebieten des modernen Lebens durch ehrliche Teilnahme an den politischen und sozialen Aufgaben des Staates, Orientierung der philosophischen Methoden an Kant statt an Thomas von Aquino, Freigabe der Bibel für die historisch-kritische Untersuchung und des Dogmas für die entwickelungsgeschichtliche Erklärung, Beteiligung an den modernen Bestrebungen in Kunst und Literatur. Dabei betonen die Reformkatholiken ihr loyales Festhalten an Dogma und Verfassung der Kirche und lehnen jede Sympathie mit den durch ihre fortschrittlichen Ideen zum Bruch mit der Kirche veranlaßten Katholiken (z. B. mit den Evadés [s. d.] in Frankreich) aufs entschiedenste ab, noch mehr jede Verwandtschaft mit dem Protestantismus, den sie mit auffallender Heftigkeit bekämpfen. Trotzdem ist es dem R. bis jetzt nicht gelungen, innerhalb der Kirche Duldung zu finden. So unbedeutend die von den Gegnern versuchte wissenschaftliche Bekämpfung ausgefallen ist, so wirksam erweisen sich die Denunziationen bei den Kirchenobern und bei der Indexkongregation. Hat schon Leo XIII. für den R. wenig Verständnis gezeigt, so ist unter Pius X. nach seiner bisherigen Haltung jede Aussicht auf das geringste Entgegenkommen ausgeschlossen.

Der R. hat fast im ganzen Gebiete der katholischen Kirche Anhänger gefunden, vor allem in Nordamerika, so daß z. B. in Frankreich Américanisme geradezu der Ausdruck für R. geworden ist. Der Vater des Amerikanismus ist der von protestantischen Eltern geborne Isaak Thomas Hecker (geb. 18. Dez. 1819 in New York, gest. daselbst 22. Dez. 1888), der, zeitweilig Redemptorist und später Leiter der von ihm selbst gegründeten Missionsgesellschaft der Paulisten, nach dem vatikanischen Konzil sich der Aufgabe widmete, dem Katholizismus eine führende Stellung im amerikanischen Geistesleben zu verschaffen. Unterstützung fand der Amerikanismus bei mehreren Prälaten, besonders dem Kardinal Erzbischof Gibbons (s. d. 2) von Baltimore und dem Erzbischof Ireland (s. d.) von St. Paul. Leo XIII. verwarf ihn in seinem Rundschreiben an den amerikanischen Episkopat vom 22. Jan. 1899. Den Ideen des Amerikanismus verdankt neben den Schriften des protestantischen Theologen Auguste Sabatier (s. d.) der R. in Frankreich seinen Aufschwung. Die meist verhandelten Probleme sind hier die der philosophischen Apologetik, der Kritik des Alten Testaments und der Geschichte des Urchristentums. Hauptvertreter des R. in Frankreich sind: Erzbischof Mignot von Albi, Bischof Lacroix von Tarentaise, die Laien Fonsegrive, Redakteur der »Quinzaine«. Ed. Le Roy und Viollet vom Institut de France, endlich die Abbés F. Klein, Albert Houtin und vor allem Alfred Loisy (s. d.). Houtins und Loisys Schriften wurden auf den Index gesetzt. Das wichtigste Organ des französischen R. ist neben dem »Correspondant« und der »Quinzaine« die seit Oktober 1905 in Lyon erscheinende Wochenschrift »Demain«, für die sozialpolitischen Bestrebungen der »Sillon« von Marc Sangnier. In Deutschland haben namentlich die nationalen und religiösen Forderungen des R. einen tapfern Vorfechter gefunden in F. X. Kraus (s. d. 3) und seinen Spectator-Briefen. Nachdem auf den Katholikentagen zu Mainz (1892) und Köln (1894) und auf der Generalversammlung der Görres-Gesellschaft (s. Görres 1) in Bamberg (1894) die Inferiorität des Katholizismus zur Debatte gestellt war, erhob sich der Ruf nach Reform immer lauter, am geistvollsten in den Schriften von Hermann Schell (s. d.), der mit Berufung auf Kardinal Manning (s. d.) und Hecker die Forderungen des Amerikanismus wiederholte. Auch Schells Schriften verfielen dem Schicksal, von der Indexkongregation zensuriert zu werden, und eine gemeinsame Erklärung des bayrischen Episkopates vom 12. April 1899 protestierte gegen seine Kritik an der wissenschaftlichen Stellung des Katholizismus und an der theologischen Erziehung des Klerus. Neben Schell sind besonders Albert Ehrhard (s. d.), einige jüngere akademische Theologen und der Schriftsteller Joseph Müller (s. Müller 15) für den R. eingetreten. Als publizistische Organe dienen ihm die Zeitschriften »Renaissance« (hrsg. von J. Müller, seit 1900, Münch.), das »20. Jahrhundert« (hrsg. von Bumüller, der übrigens die Bezeichnung R. als unkorrekt und geschmacklos ablehnen möchte, seit 1901, das.) und »Hochland« (hrsg. von Muth, seit 1903, das.). In Italien gilt als Führer des R. der greise Bischof Bonomelli von Cremona, dessen 1903 erschienene Schriften: »Das neue Jahrhundert« und »Die Kirche« auch ins Deutsche übersetzt wurden, und der sich für seinen Hirtenbrief über die Trennung von Kirche und Staat vom Februar 1906 eine päpstliche Maßregelung zuzog. Als kirchlich-sozialer Reformer hat der Priester Romolo Murri, der Gründer der Lega democratica nazionale, die päpstliche Enzyklika vom 28. Juli 1906 gegen die christliche Demokratie hervorgerufen. Murris Zeitschrift »La Cultura sociale« mußte im Juni 1906 ihr Erscheinen einstellen, wurde aber sofort durch die »Rivista di Cultura« ersetzt. Den Versuch, die Ideale des R. in das Gewand der Dichtung zu kleiden, büßte Antonio Fogazzaro (s. d.) mit der Verurteilung (5. April 1906) seines Romans »Il santo« (deutsch von M. Gagliardi, Münch. 1906). Im Oktober 1906 wurde der Professor der Kirchengeschichte an der theologischen Fakultät San Apollinare in Rom Buonaiuti ohne Angabe der Gründe abgesetzt, ein Opfer der von Pius X. den italienischen Bischöfen durch die Enzyklika. »Pieni l'animo« anempfohlenen »Reinigung« des Unterrichts an den theologischen Lehranstalten. In England hat der R., in Anknüpfung an die Ideen von Manning (s. d.) und Newman (s. d. 1), literarische Vertretung besonders durch den frühern Jesuiten G. Tyrrell gefunden. Vgl. außer den bei den einzelnen Artikeln angegebenen Schriften der genannten Autoren: Houtin, L'Américanisme (Par. 1903); F. Klein, Neue Strömungen in Religion und Literatur (Münch. 1903); Gazagnol, Die neue Bewegung des Katholizismus in Frankreich (das. 1903); Braun, Amerikanismus, Fortschritt und Reform (Würzb. 1904); Junge, Radikaler R. (Münch. 1906).


http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.

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