- Götterdämmerung
Götterdämmerung, falsche, aber in der nordischen Mythologie allgemein eingebürgerte Übersetzung des altnordischen Wortes ragnarok, das »die (letzten) Schicksale der Götter«, den Weltuntergang bedeutet. Diese Zeit kündigt sich an durch drei Jahre, die mit schweren Kriegen erfüllt sind; Brüder bringen sich aus Habgier ums Leben, und in Mord und Sippebruch schont der Vater nicht des Sohnes, der Sohn nicht des Vaters. Dann kommt der Fimbulwinter, der drei Jahre dauert, ohne Sommer dazwischen. Sonne und Mond werden von Wölfen verschlungen (ein Mythus, den die Verfinsterungen der Himmelskörper veranlaßt hatten); die Sterne fallen vom Himmel, die Erde bebt, die Bäume werden entwurzelt, die Berge stürzen zusammen, das Meer überflutet das Land. Der grimmige Fenrirwolf (s. Loki), bis dahin gefesselt, zerreißt seine Bande und fährt mit klaffendem Rachen daher; sein Oberkiefer berührt den Himmel, sein Unterkiefer die Erde. Auch das große »Leichenschiff« Naglfar, gesteuert von Hrim, dem Anführer der Reifriesen, wird bei der Überschwemmung flott, und die Midgardschlange (s. Jormungand), von Riesenwut ergriffen, erhebt sich aus dem Meer und speit Gift aus, daß Luft und Meer entzündet werden. Da birst der Himmel; herangeritten kommen von Süden die Söhne Muspels, die Riesen der Flammenwelt, Surt an der Spitze, vor und hinter ihnen glühendes Feuer. Die Brücke Bifrost bricht, indem sie darüber reiten. Das gesamte Heer der Götterfeinde sammelt sich auf der Ebene Wigrid, wo auch Loki nebst Hels ganzem Gefolge erscheint. Von Heimdall durch einen Stoß in das Giallarhorn geweckt und zum Kampf aufgerufen, versammeln sich die Götter und halten Rat. Dann zieht Odin mit allen Asen und Einheriern nach der Ebene Wigrid, wo nun sechs große Einzelkämpfe stattfinden. der Kampf Odins gegen den Fenrirwolf, der jenen verschlingt; der Kampf Thors gegen die Midgardschlange, die jener erlegt, während er selbst von dem Gifte, das sie auf ihn speit, tot zur Erde fällt; der Kampf Freyrs gegen Surt, in dem ersterer erliegt; der Heimdalls gegen Loki, die sich beide töten; der Kampf Tyrs mit dem Riesenhund Garm, in dem beide fallen, und der Widars (Sohn Odins), der dem Fenrirwolf den Rachen entzweireißt. Zuletzt schleudert Surt Feuer über die Erde, und die ganze Welt verbrennt. Nach dem Weltbrand aber taucht eine neue, schönere Erde auf, auf der das Korn ungesät wächst, ein verjüngtes und geläutertes Göttergeschlecht entsteht; auch die Menschen erstehen wieder, und die Zeit des Friedens und der Unschuld erneuert sich. Nicht aber die Asen, sondern ein höherer, ungenannter Gott führt jetzt das Regiment der Welt. – Der Glaube an den Untergang der Welt durch Feuer war allen Germanen gemeinsam, da sich das altnordische, den Weltbrand bezeichnende Wort (muspell) im Allsächsischen und Althochdeutschen wiederfindet. Die Ausgestaltung des Mythus bis ins einzelne ist jedoch vermutlich erst im Norden erfolgt. Vgl. Müllenhoff, Deutsche Altertumskunde, Bd. 5, S. 66 ff. (Berl. 1883); A. Olrik, Om Ragnarok (»Aarbøger f. nord. Oldk. og Hist.«, 1902, S. 157 ff.).
http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.