Normālarbeitstag

Normālarbeitstag

Normālarbeitstag, die gesetzliche Beschränkung der Dauer der täglichen Arbeitszeit für alle oder bestimmte in einem Arbeits- oder Dienstverhältnis stehenden Personen, im engern Sinne nur die Feststellung der Maximalarbeitszeit für erwachsene männliche Arbeiter. Statt N. wäre richtiger die Bezeichnung Maximalarbeitstag. Unter Arbeitstag kann sowohl die wirkliche Arbeitszeit je eines Tages als auch die Zeit verstanden werden, die von Beginn bis zur Beendigung der Tagesarbeit verfließt. Soll durch den N. einer Überarbeitung vorgebeugt werden, so müßte er sich auf die wirkliche Arbeitszeit beziehen. Außerdem müßte er je nach der Art der Arbeit verschieden bemessen werden, weswegen auch Rodbertus an Stelle des allgemeinen gleichen normalen Zeitarbeitstags einen gleichen Werkarbeitstag forderte, der für die verschiedenen Arbeitsarten eine verschiedene Stundenzahl umfassen würde. Das Verlangen nach einem gesetzlichen N. wird mit dem Hinweis begründet, daß die Arbeiter nicht immer in der Lage sind, zu weitgehende Anforderungen in bezug auf die ihnen zugemutete Arbeitszeit zurückzuweisen. Der Vorteil des Normalarbeitstags würde zunächst den Arbeitern zukommen, aber die allgemeine kulturelle Bedeutung seiner Einführung läßt sich nicht verkennen. Bei übermäßig ausgedehnter Arbeitszeit leidet der menschliche Körper, und es fehlt an Muße für Erholung, Ausbildung etc. Freilich werden die günstigen Folgen des Normalarbeitstags nur eintreten, wenn die Arbeiter von der gewonnenen Freiheit einen vernünftigen Gebrauch machen. Ob die Einführung des Normalarbeitstags eine Einschränkung der Produktion nach sich zöge, läßt sich nicht mit Bestimmtheit sagen. An sich ist nicht ausgeschlossen, und an Beispielen hierfür fehlt es nicht, daß trotz Verkürzung der Arbeitszeit infolge größerer Leistungsfähigkeit der Arbeiter und technischer Vervollkommnungen die gleiche, ja eine größere Warenmenge erzeugt wird. Was die sonstigen Bedenken gegen den N. anlangt, so gehen diese hauptsächlich dahin, daß ohne internationale Regelung die Konkurrenzfähigkeit desjenigen Landes, das ihn einführen würde, schwer leiden müßte, daß die Überwachung seiner Durchführung die größten Schwierigkeiten bereiten, bei der Mannigfaltigkeit des Bedürfnisses zahlreiche Ausnahmen nötig werden, die Selbsttätigkeit der Arbeiter leiden müßte. Um die Durchführung des Normalarbeitstags zu erleichtern, hat man vorgeschlagen, ihn nur in den Fabriken obligatorisch zu machen. Bezüglich der Stundenzahl des Normalarbeitstags gehen die Meinungen auseinander; während die Sozialdemokraten einen 8stündigen N. fordern, wird von andrer Seite ein 10- bis 11stündiger als am angemessensten bezeichnet. Die ersten Bestrebungen zur Einführung eines gesetzlichen Normalarbeitstags hat England aufzuweisen. 1833 brachte Lord Ashley ein Gesetz ein, das die Arbeitszeit der Erwachsenen auf 10 Stunden beschränken wollte; mehrfach wurde seit 1888 der Achtstundentag für di: Bergleute im englischen Unterhaus beantragt; eine gesetzliche Regelung kam aber nicht zustande. Tatsächlich besteht freilich infolge der energischen Tätigkeit der Gewerkvereine in den großen Werkstätten eine 10stündige, stellen weise eine 8stündige und noch kürzere Arbeitszeit. Auch in Nordamerika wurden 1840 und 1868 Versuche der Einführung eines Normalarbeitstags. und zwar für die Handarbeiter der Regierungswerkstätten, gemacht. Ein französisches Gesetz vom 9. Sept. 1848 verfügte: »Das Tagewerk des Arbeiters in Fabriken und Hüttenwerken darf 12 Stunden wirklicher Arbeit nicht übersteigen.« Dieses Gesetz wird aber in der Praxis so gut wie gar nicht angewendet. Gesetzlich durchgeführt ist der N. zurzeit nur in der Schweiz seit 1878 mit 11 Stunden, bez. 10 Stunden an Vorabenden von Sonn- und Feiertagen, nachdem Glarus 1864 den 12stündigen, 1872 den 11stündigen u. Basel-Stadt 1869 den 12stündigen N. angeordnet hatten, ferner in Österreich seit 1885 mit 11 Stunden für fabrikmäßig betriebene Gewerbsunternehmungen und (seit 1884) 10 Stunden für den Bergbau. In Rußland ist durch Gesetz vom 14. Juni 1897 die Höchstdauer der Arbeitszeit in Fabriken, Hütten und Bergwerken auf 111/2 Stunden festgesetzt; doch können Ausnahmen auf dem Verwaltungswege zugelassen werden. In einigen Staaten Nordamerikas ist jetzt der 10-, in andern der 8 stündige Arbeitstag gesetzlich eingeführt (vgl. Fabrikgesetzgebung, S. 252), aber die Gesetze können durch private Vereinbarungen zwischen Arbeitgebern und -Nehmern wirkungslos gemacht werden. Seit 1892 ist ein N. von acht Stunden für die in öffentlichen Unternehmungen beschäftigten Arbeiter eingeführt worden. Tatsächlich herrscht der 8 stündige Arbeitstag in den australischen Kolonien. In Deutschland ist bisher trotz lebhafter Agitation (Antrag des Zentrums in der Session 1888/89 auf 11stündigen, der Sozialdemokraten auf einen 10-, später 9- und 8 stündigen gesetzlichen N.) ein N. nicht eingeführt worden. Nur in einem Falle kann der Bundesrat einen solchen vorschreiben, indem ihm nach § 120 e. Abs. 3, der Gewerbeordnung die Befugnis erteilt ist, für solche Gewerbe, in denen durch übermäßige Dauer der Arbeitszeit die Gesundheit der Arbeiter gefährdet wird, Dauer, Beginn und Ende der Arbeitszeit sowie der Pausen vorzuschreiben. Von dieser Befugnis hat der Bundesrat durch Verordnungen zugunsten der Bäcker (4. März 1896), der Arbeiter in Getreidemühlen (26. April 1899) und der Kellner (23. Jan. 1902) Gebrauch gemacht. Ausnahmsweise besteht der Achtstundentag kraft Arbeitsordnung z. B. in den Betrieben der Zeiß-Stiftung in Jena. Bezüglich der gesetzlichen Beschränkungen der Arbeitszeit der Frauen und Kinder s. Fabrikgesetzgebung, S. 250. Vgl. Jäger, Der N. (Stuttg. 1890) und Geschichte und Literatur des Normalarbeitstags (das. 1892); Stieda, N., im »Handwörterbuch der Staatswissenschaften«, Bd. 5 (2. Aufl., Jena 1900); Rae, Eight hours for work (Lond. 1894; deutsch, Weimar 1897); Rost, Der achtstündige N. (Leipz. 1896).


http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.

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