Leidenschaft

Leidenschaft

Leidenschaft (lat. Passio, franz. u. engl. Passion), der wörtlichen Bedeutung nach ein Zustand des Leidens, d.h. des vollständigen Beherrschtseins der Seele durch übermächtige (innere) Antriebe; daher werden oft die Affekte oder Gemütsbewegungen (s. d.) auch Leidenschaften und wird ein zu heftigen Affekten neigender und von ihnen leicht fortgerissener Mensch ein leidenschaftlicher genannt. Im engern Sinne versteht man unter L. jedes einseitige und dabei abnorm heftige Wollen oder Streben (eine »Sucht«), z. B. die L. des Trinkers, des Geizigen, des Herrschsüchtigen, des Verliebten, des Sammlers etc. Während die eigentlichen Affekte vorübergehende Störungen des seelischen Gleichgewichts darstellen, besteht die L. (im engern Sinne) in der übermäßigen Entwickelung einer einzelnen Neigung, die alle andern zurückdrängt; der Leidenschaftliche hat nur Sinn für den Gegenstand seiner L., er kennt keinen andern oder wenigstens keinen höhern Zweck als ihre Befriedigung und richtet hiernach sein ganzes Verhalten ein. Die L. macht also zwar, indem sie die Aufmerksamkeit beständig auf einen Punkt gerichtet hält, blind für alles nicht in ihrer Richtung Liegende, aber sie hebt doch deswegen nicht immer (wie der Affekt) das klare Denken gänzlich auf, sondern spornt es vielmehr oft zu ungewöhnlichen Leistungen (in der Aufsuchung der ihrem Zweck dienlichen Mittel) an und kann so die Triebfeder glänzender Erfolge werden. Da jedes, auch das an sich berechtigte Streben zur L. ausarten kann, sobald es alleinherrschend wird, so ist zwar die L. nicht immer an sich (ihres Zieles wegen) unsittlich, aber sie wirkt doch in allen Fällen schädlich, insofern sie die geistige Freiheit, die Grundbedingung des sittlichen Handelns, beeinträchtigt. Der von einer L. Ergriffene ist unfähig, die einzelnen Lebenszwecke nach ihrem wahren Wertverhältnis abzuschätzen und sie dem sittlichen Endzweck unterzuordnen, er betrachtet vielmehr alles unter dem Gesichtswinkel seiner L. und wird so oft zu Handlungen getrieben, die er später bereut. Dem »Dämon« der L. durch Selbsterziehung entgegenzuwirken, ist daher sittliche Pflicht, und die Schuld z. B. des aus Eifersucht Mordenden (Othello) liegt zwar nicht darin, daß ihn die Eifersucht zum Morde getrieben, aber doch darin, daß er der Eifersucht soviel unerlaubte Macht über sein Wollen eingeräumt hat. Dramatiker, die ihre aus L. schuldigen Helden entlasten wollen, suchen daher die Entstehung der L. und ihrer Macht über jene begreiflich zu machen (»Macbeth«, »Richard III.«).


http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.

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