Kiew [2]

Kiew [2]

Kiew (besser Kijew, poln. Kijow), Hauptstadt des gleichnamigen russ. Gouvernements (s. oben), ist die alte Residenz der Großfürsten, eine der ältesten Städte Rußlands und die Wiege des Christentums daselbst. Sie liegt 200 m ü. M. am rechten Ufer des Dnjepr, über den die Nikolaus-Kettenbrücke und unterhalb eine Eisenbahnbrücke führen (eine Brücke über den Rusanowarm ist im Bau), im Knotenpunkt der Eisenbahnen K.-Kursk, bez. Moskau, K.-Odessa, K.-Kowel und K.-Poltawa, auf 100–130 m sich erhebenden Anhöhen erbaut, und besteht eigentlich aus drei Teilen, die untereinander verbunden sind und den gemeinschaftlichen Namen K. führen. Der erste Teil, Podol genannt, liegt unmittelbar am Dnjepr auf einer Art Vorland, das sich hier zwischen dem Wasser und dem steilen Ufer erstreckt. Über Podol auf der Höhe liegen Altkiew und Petschersk, die durch den Kreschtschatik, die eleganteste Straße, miteinander verbunden sind. Die bergige Lage und die gewaltigen goldenen Kuppeln der vielen Kirchen geben K. ein ungemein malerisches Ansehen. Man zählt 81 orthodoxe Kirchen, eine der Raskolniken, 4 katholische, 2 protestantische, 10 Klöster und 18 jüdische Bethäuser. Im südlichen Teile von Petschersk liegt das berühmte Kloster gleichen Namens, um 1050 vom Russen Antonius angelegt und im 12. Jahrh. zur Lawra erhoben, und tief unter demselben das unterirdische sogen. Höhlenkloster, wo in weitverzweigten Gängen die zahlreichen Heiligen, jeder in einer besondern Nische, ruhen (vgl. Goetz, Das Kiewer Höhlenkloster als Kulturzentrum des vormongolischen Rußlands, Passau 1904). Die Zahl der Pilger, die jährlich dieses Kloster besuchen, beträgt etwa 200,000. Das goldgedeckte Michaelskloster (1008 gegründet) liegt auf einem Berg und enthält ein 1825 vom Kaiser Nikolaus geschenktes, reich mit Brillanten verziertes Bild des Erzengels Michael, des Schutzpatrons der Stadt, und das silberne Grabmal der heil. Barbara. Die 1037 von Jaroslaw dem Weisen gegründete Kathedrale der heil. Sophia enthält einen mit reichem Mosaikschmuck bedeckten Altar, der sowohl durch die Reinheit der Ausarbeitung als durch seine Größe berühmt ist und drei ganze Stockwerke einnimmt. Das Innere der Kirche stellt eine Art von Labyrinth dar. das aus Galerien, Scheidemauern, Säulen und Gewölben besteht; in den Zwischenräumen befinden sich die Gräber der Großfürsten sowie das Marmorgrab von Jaroslaw Wladimirowitsch. Von neuern Kirchen sind bemerkenswert die Wladimir-Kathedrale und die Kirche des heil. Andreas des Erstberufenen, auf dem höchsten Punkte von Altkiew 1744 in Anwesenheit der Kaiserin Elisabeth gegründet. Hervorragende Profanbauten sind: das kaiserliche Schloß (mit Park), 2 Theater, ein Opernhaus, die Universität. K. hat Denkmäler Wladimirs I. (von Klodt), Bogdan Chmelnizkis u. a. Die Zahl der Einwohner betrug 1902: 319,000, worunter etwa 20,000 Polen und 12,000 Juden. In wirtschaftlicher Hinsicht ist K. vor allem das Zentrum der russischen Zuckerindustrie, hat daneben aber auch einen sehr bedeutenden Getreidehandel und ist der Punkt, von dem aus der ganze Südwesten Rußlands mit Maschinen, namentlich landwirtschaftlichen, Manufaktur- und Kolonialwaren versorgt wird. Von besonderer Bedeutung ist der vom 5.–26. Febr. stattfindende sogen. »Kontrakten«-Jahrmarkt, auf dem Millionenabschlüsse in Zucker, Korn etc. erfolgen. K. hat eine Börse, zwei Kommerz- und eine Agrarbank. Von Bildungsanstalten besitzt K. die Wladimir-Universität mit (1903) 2455 Studierenden, die sehr reich ausgestattet ist und wertvolle Sammlungen, ein schönes physikalisches Kabinett, ein Anatomikum und einen bedeutenden meteorologischen Apparat nebst botanischem Garten besitzt, eine Technische Hochschule, das Galagausche Kollegium, eine geistliche Akademie und zahlreiche andre Lehranstalten, darunter 16 mittlere Schulen und 6 Spezialschulen. Unter den letztern befinden sich eine Infanteriejunkerschule, 2 Priesterseminare, 2 Feldscherschulen, eine Handwerkerschule. In K. erscheinen 30 Zeitungen und Zeitschriften, darunter drei Tagesblätter größern Stils. K. ist Sitz eines Metropoliten, eines Generalgouverneurs und des Kommandos des 9. Armeekorps sowie eines deutschen Berufskonsuls. Die wichtige Festung K. liegt 7 km südlich von der Mündung der Desna auf dem rechten, über 100 m hohen Ufer des Dnjepr.

K., der Sage nach schon vor Christi Geburt von Griechen und Skythen oder 430 n. Chr. von Slawen gegründet, war Hauptsitz des altslawischen Götzendienstes. 864 besetzten die warägo-russischen Fürsten Askold und Dir K. Um das Jahr 882 war K. die Hauptstadt des russischen Reiches. 988, als Wladimir der Heilige hier das Christentum einführte, wurde K. auch die geistliche Metropole Rußlands. K. blühte rasch auf; es wird berichtet, bei einer großen Feuersbrunst 1124 seien allein 600 Kirchen abgebrannt. 1169 ward K. von dem Großfürsten Andrej Bogoljubskij erobert und hörte seitdem auf, Hauptstadt des russischen Reiches zu sein. 1240 wurde es von den Tataren verwüstet, 1320 von den Litauern unter dem Großfürsten Gedimin erobert. 1569 fiel es an das Königreich Polen, 1654 wieder an Rußland, dem es 1686 förmlich abgetreten ward. In K. rastete Katharina II. mehrere Wochen auf ihrer berühmten Reise in die Krim 1787. Vgl. de Baye, Kiev, la mère des villes russes (Par. 1896).


http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.

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