Heereskrankheiten

Heereskrankheiten

Heereskrankheiten (Armeekrankheiten), Krankheiten, die in den Heeren häufiger vorkommen, insbes. solche, deren Auftreten und Weiterverbreitung durch die Eigentümlichkeiten des Heeresdienstes begünstigt werden. Der Gesundheitszustand der Heere, zunächst der Friedensheere, wird wesentlich beeinflußt durch die Beschaffenheit des Ersatzes und die bei der Aushebung maßgebenden Grundsätze, durch klimatische Verhältnisse der Truppenstandorte und den Gesundheitszustand der Zivilbevölkerung, endlich durch die Heereseinrichtungen: Unterkunft, Kost, Bekleidung, die Art der militärischen Übungen und des Dienstbetriebes. Die Sterblichkeit im Heer wird aber auch erheblich beeinflußt durch die Vorschriften, nach denen die Entlassung unheilbar Erkrankter gehandhabt wird. Obwohl das Heer im allgemeinen aus dem kräftigsten und gesündesten Teil der Bevölkerung, überwiegend im jugendlichen Alter, besteht, so ist die Erhaltung der Gesundheit im Heer doch sehr schwierig, und zwar allein schon wegen des engen Zusammenwohnens der Mannschaften. Indes haben die Bemühungen der neuern Zeit dahin geführt, daß die Erkrankungen und Todesfälle überraschend zurückgegangen sind, und im deutschen Heer ist sogar die jährliche Sterblichkeitsziffer geringer geworden als bei der entsprechenden männlichen Altersklasse der Zivilbevölkerung. In der preußischen Armee erkrankten 1846–63 durchschnittlich jährlich 1336 auf das Tausend der Durchschnitts kopfstärke, 1867–73: 1350, 1874–78 (einschließlich des württembergischen Armeekorps) 1207, 1878–82: 1151, 1882–83 (einschließlich auch des sächsischen Armeekorps) 850 und 1883–90 nur 831. Die durchschnittliche jährliche Sterblichkeit infolge von Krank heiten betrug 1829–38: 13,1,1846–63: 8,8,1867 bis 1872: 5,8,1874–82: 4,2,1883–90: 2,7 auf 1000 Köpfe. Dabei ist die Zahl der als dienstunbrauchbar und invalide entlassenen seit 1873 im allgemeinen im Abnehmen begriffen. In der Marine betrug 1879 pis 1883 die Zahl der Erkrankungen 1429, die Zahl der Todesfälle 5,8 auf 1000. Von den einzelnen Krankheitsformen sind am wichtigsten die Infektionskrankheiten. Ihre Verbreitung wird durch das enge Zusammenwohnen befördert, anderseits ist aber die Durchführung der besondern Vorbeugungsmaßregeln bei einer Truppe im Frieden viel leichter als bei einer unkontrollierbaren Zivilbevölkerung. Die glänzendsten Resultate wurden bei den Pocken erreicht. Die Pockensterblichkeit betrug im preußischen Heer 1825–34 durchschnittlich 3,0 auf 1000. Seit der Einführung der Schutzpockenimpfung stieg die Sterblichkeit nur ausnahmsweise auf 0,7, in den Jahren 1882–92 kamen nur 3 Erkrankungen mit einem Todesfall im deutschen Heer (ausschließlich Bayern) vor. An Typhus starben im preußischen Heer 1846–63 durchschnittlich 3,06 auf 1000, in den Jahren 1867–69 kamen jährlich 7,5–11 Erkrankungen und 1,3–2 Todesfälle auf 1000 vor, 1881–91 betrugen die Zahlen nur 6,2, bez. 0,35. Gegenüber dem Typhus hat die Reinhaltung des Bodens durch ordnungsgemäße Beseitigung der Abfallstoffe und die Versorgung mit unverdächtigem Trinkwasser den in den angegebenen Zahlen ersichtlichen günstigen Einfluß ausgeübt. Auch hat sich bei Typhusepidemien die Evakuation der Truppe als besonders wirksam erwiesen. Die gleichen Maßregeln richten sich gegen Cholera und Ruhr. Bei der Cholera haben die Friedensgarnisonen der europäischen Heere im allgemeinen das Schicksal der Zivilbevölkerung gehabt, mehrfach ist aber eine bedeutend größere Sterblichkeit bei den Truppen als bei jener beobachtet worden. An Ruhr erkrankten im deutschen Heer im Durchschnitt der Jahre 1881–91: 0,6 auf 1000. Am Sumpffieber leiden besonders die Besatzungen der Festungen. Vorbeugen läßt sich durch Trockenlegung des Bodens, reines Trinkwasser und gute Ernährung. Ziemlich zahlreich sind Krankheiten der Atmungsorgane. In der deutschen Armee erkrankten 1883–84: 81,3 von 1000; am wichtigsten sind Lungenentzündung und Lungentuberkulose, von denen letztere durch das enge Beisammenleben, durch die Staubaufwirbelung und durch die früher übliche Weiterbenutzung nicht desinfizierter Bekleidungsstücke, Betten etc. der in Abgang gekommenen Erkrankten sehr begünstigt wird. Auch hier läßt sich durch zweckmäßige Maßregeln viel bessern. Die Erkrankungsziffer an Lungentuberkulose betrug 1881–91: 3,2 auf 1000. An Syphilis erkrankten 1881–91 im deutschen Heer 7,0 auf 1000. Man trifft entsprechende Vorsorge, bestraft die Verheimlichung, beschränkt den Urlaub, das wirksamste Mittel aber besteht in strenger Überwachung der Prostitution. Krätze, früher sehr verbreitet, ist gegenwärtig ohne Bedeutung, ebenso der Skorbut. Die ägyptische Augenentzündung wird durch die Wohnungsverhältnisse der Mannschaften und den gemeinsamen Gebrauch von Waschgeräten begünstigt, und häufig wird sie den Truppen durch den Ersatz aus Gegenden, in denen die Krankheit endemisch geworden ist, zugetragen. Mechanische Verletzungen veranlassen einen sehr erheblichen Krankenzugang, der aber in den einzelnen Armeekorps so bedeutend schwankt (125 und 208 auf 1000), daß sich daraus die Vermeidbarkeit bis zu einer gewissen Grenze ergibt. Sonnenstich und Hitzschlag sind durch Verlegung der Übungen in die frühen Morgenstunden, durch weise Marschordnung, Wasserdarreichen während des Marsches etc. sehr viel seltener geworden. Als Rekrutenkrankheiten bezeichnet man wohl Krankheitsformen, von denen die unausgebildeten Mannschaften auffallend häufiger befallen werden als die ausgebildeten. Dahin gehören besonders die Krankheiten der Atmungsorgane, der Haut, der Schleimhäute und die mechanischen Verletzungen. Alle Armeen weisen höhere Selbstmordziffern auf als die entsprechenden Altersklassen der männlichen Zivilbevölkerung, und zwar sind diese Ziffern gegenwärtig fast doppelt so hoch wie vor 60 Jahren (1883–90: 0,64 auf 1000). Ähnliches findet man bei der Zivilbevölkerung, und der Überschuß im Heer erklärt sich durch den tiefen Eingriff in alle Lebensbeziehungen, den der Eintritt ins Heer mit sich bringt.

In fast allen Kriegen haben bisher Krankheiten bei weitem größere Verluste verursacht als die Waffen. Diese Verluste werden ganz erheblich beeinflußt durch die hygienischen Verhältnisse bei den kämpfenden Truppen und in den Lazaretten sowie durch Schnelligkeit, Umfang und Art des Sanitätsdienstes. Durch Kriegsseuchen sind ganze Heere vernichtet worden. Z. B. verhielten sich die Verluste durch Waffen zu denen durch Krankheiten im Krimkriege wie 1: 3,7, im Kriege von 1866 auf preußischer Seite wie 1: 1,44. Im Kriege von 1870/71, in dem auf deutscher Seite Krankheiten nur halb soviel Todesfälle wie die Verwundungen veranlaßt hatten (18, bez. 35 auf 1000), ein bis dahin nicht dagewesenes günstiges Verhältnis, starben an Krankheiten überhaupt 18,6, an Infektionskrankheiten 16,5 von 1000. Die einzelnen Infektionskrankheiten haben sich in den Kriegen in verschiedener Weise bemerkbar gemacht und zwar entsprechend der Verbreitung der Seuchen in den Heeren vor Ausbruch des Krieges und der Art und dem Umfang der Durchseuchung des betreffenden Landes. Die meisten Kriegsseuchen des Altertums und des Mittelalters waren wohl Flecktyphus, der zuletzt noch 1812 in Rußland und im Krimkriege wütete. Im deutsch-französischen Kriege von 1870, 71 trat der Flecktyphus nicht auf, dagegen brachte der Unterleibstyphus, namentlich vor Metz, große Verluste (93 Erkrankungen und 11 Todesfälle auf 1000 = 60 Proz. aller an Krankheiten Gestorbenen). Auch die Ruhr war oft eine gefürchtete Kriegsseuche, die Cholera hat mehrfach entscheidend auf die Kriegführung eingewirkt und auch 1866 viele Opfer gefordert; dem Kriegsschauplatz von 1870/71 blieb sie fern. Die Pocken haben seit der Einführung der Schutzimpfung ihre frühere Bedeutung verloren. Die mangelhaft geimpfte französische Armee wurde 1870´71 noch sehr stark, das deutsche Heer sehr wenig befallen. Vgl. Villaret, Artikel »Heereskrankheiten« in Eulenburgs »Realenzyklopädie der Heilkunde« (Wien 1897).


http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.

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