- Gute Sitte
Gute Sitte. In der Rechtssprache versteht man unter guter Sitte alles das, was der jeweiligen sittlichen Anschauung eines ganzen Volkes entspricht, nicht also noch so verbreitete und mächtige Standesanschauungen und Standesvorurteile einzelner Bevölkerungsklassen oder gewisser Volksschichten. Was früher gegen die g. S. verstieß, kann heute dem Volksbewußtsein und Volksempfinden entsprechen und umgekehrt; was bei dem einen Volk als nicht den guten Sitten entsprechend angesehen wird, kann bei dem andern als völlig einwandsfrei und zulässig betrachtet werden. Es ist deshalb durch Art. 30 des Einführungsgesetzes zum Bürgerlichen Gesetzbuch ausdrücklich die Anwendung ausländischer Rechtsnormen, die nach unsrer Anschauung den guten Sitten widersprechen, deutschen Richtern untersagt. Infolge dieser Wandelbarkeit der Auffassung über das, was den guten Sitten entspricht oder gegen sie verstößt, haben die Gesetze es auch unterlassen, eine Definition dieses Begriffs zu geben. Das Bürgerliche Gesetzbuch sagt vielmehr zunächst ganz allgemein in Abs. 1 des § 138, daß ein Rechtsgeschäft, das gegen die g. S. verstößt, nichtig ist, und führt in Abs. 2 dieses Paragraphen als insbesondere gegen die g. S. verstoßend solche Rechtsgeschäfte an, durch die jemand unter Ausbeutung der Notlage, des Leichtsinns oder der Unerfahrenheit eines andern sich oder einem Dritten für eine Leistung Vermögensvorteile gewähren läßt, die den Wert der Leistung in auffälligem Maß übersteigen. Leistungen, die infolge derartiger Rechtsgeschäfte gemacht wurden, können deshalb von dem Leistenden zurückgefordert werden, es sei denn, daß auch er wissentlich hierbei gegen die g. S. verstieß. Liegt zunächst nur eine gegen die g. S. verstoßende Verbindlichkeit vor, z. B. A verpflichtet sich, den B durchzuprügeln, so kann dieselbe von dem zur Leistung Verpflichteten selbst dann angefochten werden, wenn auch er wissentlich bei Übernahme derselben gegen die g. S. verstieß. Der Nichtigkeit und Nichteinklagbarkeit derartiger Rechtsgeschäfte entspricht endlich die Bestimmung des § 826, nach dem zum Schadenersatz verpflichtet ist, wer in einer gegen die g. S. verstoßenden Art und Weise einem andern vorsätzlich Schaden zufügt. Vgl. Schneider, Treu und Glauben im Rechte der Schuldverhältnisse (Münch. 1902); Stammler, Die Lehre von dem richtigen Rechte (Berl. 1902); Steinbach, Die Moral als Schranke des Rechtserwerbes und der Rechtsausübung (Wien 1898). S. auch Guter Ton.
http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.