- Tradition
Tradition (lat.), im eigentlichen Sinne soviel wie Übergabe (s. d.). Dann die der geschriebenen Geschichte entgegengesetzte, nur durch die mündliche Überlieferung auf die Nachwelt gelangende Kunde, insbes. die jüdischen und christlichen Satzungen und Lehren, die nicht in der Bibel schriftlich fixiert sind, sich aber durch mündliche Überlieferung in Synagoge und Synedrion (s. d.) oder in der Kirche erhalten und fortgepflanzt haben. Die Sicherheit dieser T., deren sich die römisch-katholische Kirche nicht nur zur Begründung von Lehren, geschichtlichen Tatsachen und Gebräuchen, sondern auch zur Rechtfertigung der hergebrachten Schriftauslegung bedient, weshalb eine dogmatische, rituelle, historische und hermeneutische T. unterschieden wird, wurde von den Reformatoren angefochten, die höchstens die T. der ersten christlichen Jahrhunderte beachtet, aber auch diese der Heiligen Schrift untergeordnet wissen wollten. Dagegen setzte die katholische Kirche auf dem Konzil von Trient die T. ausdrücklich der Schrift als ebenbürtig an die Seite, indem sie erklärt, daß die Heilswahrheiten und Sittenregeln enthalten seien in den geschriebenen Büchern und den ungeschriebenen Traditionen, die aus dem Munde Christi selbst von den Aposteln vernommen oder von den Aposteln selbst nach Mitteilung des Heiligen Geistes gleichsam von Hand zu Hand überliefert bis auf uns gekommen sind. Gleiches ist auch die Voraussetzung der griechischen Dogmatik, während die protestantische Dogmatik der T. nur insofern eine grundsätzliche Bedeutung beilegen kann, als sie für ihre Aussagen sich nicht bloß auf die in der Heiligen Schrift unmittelbar bezeugte Glaubenserfahrung der ersten christlichen Generationen zurückzubeziehen, sondern auch die ganze Glaubenserfahrung der geschichtlich gewordenen Christenheit, zumal die grundlegende, symbolbildende Epoche des Protestantismus zu verarbeiten hat. Vgl. Holtzmann, Kanon und T. (Ludwigsb. 1859); Weiß, Zur Geschichte der jüdischen T. (Wien 1871–91, 5 Tle.); Winkler, Der Traditionsbegriff des Urchristentums bis Tertullian (Münch. 1897).
http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.