Tierdienst

Tierdienst

Tierdienst (Tierkult, Zoolatrie), die Verehrung bestimmter nützlicher oder schädlicher Tiere. Die niedersten Naturvölker betrachten das Tier als ein mit ihnen auf gleicher Stufe stehendes Wesen, mit dem man sich durch Blutmischung und Schutzgelöbnis verbrüdern kann (die schon im Mahâbhârata vorkommende und in unzähligen Märchen fortlebende Tierbrüderschaft), ja oft als ein sie an Macht überragendes Wesen, dem man Verehrung bezeigen müsse, wie denn von einigen nordischen Völkern erzählt wird, daß sie den Bären um Verzeihung gebeten hätten, wenn sie ihn getötet hatten. In diesem Sinne konnten andre Völker und Individuen auch ein bestimmtes Tier zu ihrem Schutzgeist erwählen (vgl. Fetischismus und Totem), an ein Fortleben der Ahnen in Tierleibern (Seelenwanderung) und an eine Verwandlung von Menschen in Tiere (Werwolfsage, s. Werwolf) glauben. Mäuse, Frösche, Eidechsen gelten als Seelenformen, in deren Gestalt die menschliche Seele den Mund der Sterbenden verläßt, der Storch vielleicht ebendeshalb, weil er diese kleinen Tiere frißt, als unantastbarer Seelenträger (Adebar), der die Kinderseelen herbeiträgt. Im besondern wurden wegen ihrer Kraft und Wildheit gefürchtete Tiere, wie Löwe, Wolf und Bär, oder solche, die wegen ihres unheimlichen Wesens gemieden werden, wie Molche, Eidechsen (Drachen) und Schlangen (s. Schlangendienst), häufiger zum Gegenstand einer abergläubischen Verehrung. Einem andern Vorstellungskreis, obwohl er aus dem vorigen entstanden sein mag, gehört der T. der alten Ägypter, Semiten und Inder an, die an göttliche Inkarnationen in Tiergestalt und an eine Wanderung der menschlichen Seele durch Tierleiber glaubten. Diese Völker stellten ihre Gottheiten daher in Tiergestalt oder wenigstens mit Tierköpfen versehen dar, pflegten die betreffenden Tiere in Tempeln (z. B. die in den Küstenländern wohnenden Semiten gewisse heilige Fische, die Ägypter den Apis, Katzen, Ibisse u. a., die Inder Schlangen, Krokodile, weiße Elefanten und Affen), erließen Gesetze zu ihrem Schutz, setzten sie nach ihrem Tode feierlich einbalsamiert bei etc. Aus diesen Inkarnationsvorstellungen gingen in den spätern Religionssystemen die als Attribute der Gottheiten namentlich von der bildenden Kunst verwerteten heiligen Tiere, wie der Adler des Jupiter und des Johannes, der Löwe der Rhea und des heil. Markus, die Raben und Wölfe Odins und Apollons, die Tauben der Venus, der Specht des Mars (Picus) etc., hervor, und ebenso schließen sich daran gewisse Stammsagen (Drache der Chinesen, Wölfin der Römer). Vgl. Bastian, Das Tier in seiner mythologischen Bedeutung (in der »Zeitschrift für Ethnologie«, 1. Bd. 1869); De Gubernatis, Die Tiere in der indogermanischen Mythologie (deutsch, Leipz. 1874, 2 Bde.).


http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.

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