Sardou

Sardou

Sardou (spr. ßardū), Victorien, franz. Bühnendichter, geb. 7. Sept. 1831 in Paris als Sohn eines aus Nizza stammenden Sprachlehrers, trieb zuerst medizinische Studien, fühlte sich aber bald zur Literatur hingezogen und machte, während er sich mit Lektionen kümmerlich ernährte, seinen ersten Versuch als Theaterdichter mit »La taverne des étudiants« (1854), die im Odéon durchfiel. Durch seine Verheiratung mit der Schauspielerin Brécourt trat er in Beziehungen zu der berühmten Déjazet, die sein Talent erkannte und sich von ihm in »Monsieur Garat« und »Les prés Saint-Gervais« (1860) zwei Paraderollen schreiben ließ. die sich lange auf dem Spielplan erhielten. Den Beifall einas gewähltern Publikums errang er dann zuerst im Gymnase mit dem Lustspiel »Les pattes de mouches« (1861; in Deutschland unter dem Namen: »Der letzte Brief« bekannt), das bereits alle Vorzüge und Schwächen des Verfassers offenbart. Mit Scribe teilt S. die erstaunliche Fertigkeit der Mache und die Oberflächlichkeit der Empfindung; dagegen überragt er ihn in dem Witz des Dialogs und in der Kunst, den Zeitgenossen ihre Fehler abzusehen und, wenn auch nicht in durchgearbeiteten Charakteren, so doch in lustigen und prägnanten Typen vorzuhalten. Diese Kunst bewährte er in einer langen Reihe von Stücken, die fast ebensoviel Bühnenerfolge waren, und von denen wir als die bedeutendsten anführen: »Piccolino«, »Nos intimes« und »Les ganaches« (1861), letzteres eine etwas liebedienerische Satire auf die »alten Parteien«; »La papillonne« (1862 von dem Parterre des Théâtre-Français wegen seiner Schlüpfrigkeit zurückgewiesen und 1880 im Gymnase als vergleichsweise sehr harmlos applaudiert); »Les diables noirs« (1863), das Zauberstück »Don Quichotte« und die Posse »Les pommes du voisin« (1864); »Les vieux garçons« und »La famille Benoîton«, eine scharfe Verhöhnung der Sitten des zweiten Kaiserreichs (1865); »Nos bons villageois«, worin die falsche Gemütlichkeit des Landlebens gegeißelt wird, und »Maisonneuve«, gegen die Haußmannsche Stadtverschönerung gerichtet (1866); »Séraphine«, ein Bild weiblicher Scheinheiligkeit (1868); »Fernande« (1870); »Rabagas« (1872), ein dramatisches Pamphlet, für dessen Helden politische Parvenüs aller Parteien, namentlich aber Emile Ollivier und Gambetta, Modell sitzen mußten, daher die Aufführungen im Vaudeville regelmäßig zu Demonstrationen Anlaß gaben; »L'oncle Sam« (1873), ein etwas schiefes nordamerikanisches Familien- und Charakterbild, und »Les Merveilleuses« (1873), eine Sittenstudie aus der Zeit des Direktoriums; »Ferréol« (1875), »Dora« (1877), »Les bourgeois de Pont-Arcis« (1878); ferner »Daniel Rochat« (1880), der den freilich sehr äußerlich aufgefaßten Kampf zwischen Freigeisterei und Rechtgläubigkeit zum Vorwurf hat; »Divorçons«, eine Verspottung der Ehescheidung (1881); die von Uchard erhobene Klage auf Plagiat in »Odette« (1882) beantwortete er witzig in »Mes Plagiats« (1883); die für Sarah Bernhardt geschriebene, im modernen Rußland spielende, äußerst packende »Fédora« (1883) und »Théodora« (1884), worin eine Episode aus der Regierungszeit Kaiser Justinians und seiner entarteten, aus dem Zirkus stammen den Gemahlin Theodora behandelt wird; das Ausstattungsstück »Le Crocodile« (1886) und das Schauerdrama »La Tosca« (1887), ein Haupterfolg der Sarah Bernhardt. Außerdem sind noch zwei Dramen von etwas höherm Flug zu nennen: »Patrie« (1869), ein großartig angelegtes Gemälde aus der Zeit der Befreiung der Niederlande, und »La Haine« (1874), ein Nachtstück aus den Kämpfen der italienischen Adelsgeschlechter im Mittelalter, von denen jedoch nur das erstere einen äußern Erfolg hatte. »Marquise!« (1889) wurde als anstößig scharf kritisiert. Sehr beifällig aufgenommen wurde das Lustspiel »Belle-Maman« (1889); in »Cléopâtre« (1890), für Sarah Bernhardt geschrieben, blieb er weit hinter Shakespeare zurück; »Thermidor« (1891) wurde nach der dritten Vorstellung in der Comédie-Française verboten, weil die Brandmarkung Robespierres die heftige Opposition einiger radikalen Politiker erregte, fand aber dauernden Erfolg in der Porte Saint-Martin. »Madame Sans-Gêne« (1893), worin Napoleon eine komische Rolle spielt, erwies sich mit der Réjane als eines der besten historischen Lustspiele und eroberte alle Bühnen der Welt. »Gismonda« (1894), für Sarah Bernhardt geschrieben, hielt sich nicht lange. Besser gefiel das bürgerliche Rührstück »Marcelle« (1895); »Spiritisme« (1897) verteidigte ohne Erfolg den Spiritismus, dem S. selbst huldigt. »Paméla« (1898) verfocht ebenso unglücklich die Rettung Ludwigs XVII. Durch diese Mißerfolge geärgert, ließ S. die Dramen »Robespierre« (1899) und »Le Dante« (1903) nur in London englisch ausführen. Das die Inquisition brandmarkende Drama »La Sorcière« (1903) verschaffte jedoch der Sarah Bernhardt in Paris und anderwärts große Erfolge, und auch das Lustspiel »La Piste« (1906, deutsch als »Verwehte Spuren«) hielt sich lange Zeit in den Variétés. Es war das 55. Stück, das S. auf die Bühne brachte. Auch hat er eine Anzahl Operntexte sowie einige Novellen (z. B. »La perle noire«) verfaßt. S. ist seit 1877 Mitglied der Akademie und bewohnt in der Ortschaft Marly, deren Maire er ist, einen fürstlichen Landsitz. Vgl. Gottschall, Porträts und Studien, Bd. 4 (Leipz. 1871); Montégut in der »Revue des Deux Mondes« (1877); Albert Wolff, Victorien S. et l'oncle Sam (Par. 1874); Blanche Roosevelt, Vict. S., poet, author etc. (Lond. 1892); Rebell, V. S. (Par. 1903).


http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.

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