Religionswissenschaft

Religionswissenschaft

Religionswissenschaft (hierzu die »Religions- und Missionskarte der Erde« mit Textbeilage. I: Verbreitung der Religionen auf der Erde, II: Die Missionsgesellschaften). Die R. ist eine junge Wissenschaft, die erst im Begriff ist, sich auszugestalten auf Grund der Arbeit, die von der Religionsgeschichte in den Gebieten der verschiedenen Völker und Kulturen in den letzten Jahrzehnten geleistet worden ist. Gab es in frühern Epochen eigentlich nur die »Mythologie« der einzelnen Völker getrennt, die nur hier und da tiefer angeregt wurde durch zusammenfassende Gedankenreihen der Philosophen, insbes. im 19. Jahrh. Schellings und Hegels, über Religion, ihr Wesen und ihre Geschichte oder auch durch den Ausblick auf fremde lebende Völker, der durch Reisen, vor allem durch Kolonisation und Mission, zunächst in England, eröffnet wurde, so haben doch bewußt eine vergleichende R. erst die Männer begründen zu können geglaubt, die nach dem Aufblühen der Sanskritstudien im wesentlichen durch sprachwissenschaftliche Mittel und etymologische Namendeutung hinter mehreren verglichenen Religionen eine vorangegangene Urreligion ermitteln wollten. Von A. Kuhns (s. Kuhn 2) und E. Burnoufs (s. d. 3) Werken sind noch mehr Anregungen übriggeblieben als von den hierhergehörigen Arbeiten Max Müllers (s. Müller 21), der lange der allgemein bekannte Träger dieser R. war: seine trotz aller Widerlegung hartnäckig immer wiederholten Lehren und Kombinationen sind wissenschaftlich völlig zusammengebrochen. Dreierlei Faktoren haben erst den Boden für einen haltbaren Bau geschaffen: die Beachtung und Erforschung des lebendigen Volkes, seines Glaubens und seines Brauches, wie sie Jakob Grimm (s. d.) in tiefster wissenschaftlicher Arbeit gelehrt und W. Mannhardt (s. d.) bereits mit den Überlieferungen der antiken Völker in die fruchtbarste Vergleichung gesetzt hatte; das Studium der kulturlosen Völker, das in Deutschland an Th. Waitz (s. d.) einen seiner Zeit weit vorausgeeilten Vertreter hatte (»Anthropologie der Naturvölker«), im wesentlichen aber dann in England nicht nur in eine ungeheure Weite des Materials ausgedehnt wurde, sondern auch in Edward Tylor (s. d.) denjenigen fand, der in einem gewaltigen Wurfe Hauptzüge primitiven religiösen Denkens herausgriff und zusammenfassend darstellte (»Primitive Culture«; deutsch: »Die Anfänge der Kultur«, von Spengel und Poske, Leipz. 1873); endlich die Arbeit der einzelnen Philologien, unter denen wohl am frühesten die semitische, vor allem durch W. Robertson Smiths (s. d.) »Lectures on the Religion of the Semites« (deutsch von R. Stübe, Freiburg 1899), die richtigern Anschauungen zur Geltung brachte und ihrerseits mächtig förderte. Dienten so die Volkskunde, die Völkerkunde (Ethnologie, Anthropologie) und die einzelnen Philologien (die semitische, klassische, indische, germanische etc., weitere Literatur s. unter Religionsgeschichte, Mythologie etc.) der Ausbildung und Fortentwickelung einer R., so ist Hermann Usener (s. d.) der eigentliche Begründer der modernen R. gewesen, die auf historisch-philologischem Grunde ruht (vgl. die Zusammenfassung seiner Anschauungen im Artikel »Mythologie« des »Archivs für R.«, 1904, 1906 ff.). Die Hauptarbeit der R. gilt einstweilen vornehmlich der Erforschung der in gleichen und ähnlichen Formen erkennbaren Unterschicht religiöser Vorstellungen, der »Volksreligion« als des Untergrundes aller historischen Religionen (vgl. A. Dieterich, Mutter Erde, ein Versuch über Volksreligion, Leipz. 1905; zu einem reichen Repertoire von wiederkehrenden Zügen der »primitiven« Religion hat J. G. Frazer sein Werk »The golden bough«, 2. Aufl., Lond. 1900, 3 Bde., zu machen gewußt), und auch jetzt schon tritt daneben als eine hauptsächliche Aufgabe immer mehr die Erforschung der Genesis des Christentums aus den vielfachen Elementen solcher Volksreligion und der verschiedenen geschichtlichen Religionsformen in den Vordergrund der gegenwärtigen Arbeit. Eine Entwickelungsgeschichte der Formen religiösen Denkens gilt den Führern dieser neuen wissenschaftlichen Bewegung als das Ziel der R. Die rein wissenschaftliche R. hat in Frankreich als Organ die von Jean Réville redigierte »Revue de l'histoire des religions«, in Deutschland das jetzt von Albrecht Dieterich geleitete »Archiv für R.« (Bd. 1–6, Tübing. 1898 ff.; Bd. 7 ff., Leipz. 1904 ff.). Eine ungemein reichhaltige Bibliographie bietet Louis Henry Jordan, Comparative religion, its genesis and growth (Lond. 1905). Eine philosophische Kritik der mythologischen Theorien gibt W. Wundt in seiner »Völkerpsychologie«, 2. Bd., 1. Teil (Leipz. 1905). – Über die Verbreitungsgebiete der einzelnen Religionen vgl. beifolgende Karte mit statistischer Tabelle.


http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.

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