- Orākel
Orākel (lat. oraculum, »Spruchstätte«), ein Ort, wo, meist im Namen einer Gottheit durch Vermittelung von Priestern, Weissagungen erteilt werden sowie die Weissagung selbst. Die Zahl der O. war bei den Griechen sehr groß; nach der Offenbarungsart unterschied man Zeichen-, Spruch-, Traum- u. Totenorakel. Das berühmteste Zeichenorakel war das uralte des Zeus in Dodona (s. d.), wo aus dem Rauschen der heiligen Eiche, später auch aus dem Klang eines ehernen Beckens bei Berührung durch die vom Winde bewegten Kettchen einer von einem ehernen Knaben gehaltenen Peitsche geweissagt wurde. Im Zeusheiligtum zu Olympia dienten die Eingeweide der Opfer und der Brand der Opferstücke als Zeichen. Hierher gehören auch die Los- und Würfelorakel, wie das des Herakles zu Bura in Achaja. Am angesehensten waren die fast ausnahmslos mit dem Apollokult verbundenen Spruchorakel, wo von Priestern oder Priesterinnen in ekstatischem Zustand, meist hervorgerufen durch physische Einflüsse, Einatmen von Erddämpfen oder Genuß erregenden Wassers, gesprochene Worte in einen Spruch, oft in Versen, gefaßt wurden. Außer dem berühmtesten aller O. in Delphi (s. d.) gab es zahlreiche solcher im eigentlichen Griechenland, namentlich in Böotien und in Kleinasien, wie das von den Branchiden geleitete in Didyma bei Milet und das zu Klaros bei Kolophon. Durch Traumorakel wurde in Asklepiosheiligtümern, vor allen in dem zu Epidauros, Kranken Bescheid über ihre Heilung gegeben (s. Inkubation). Andre berühmte Traumorakel waren namentlich die der Heroen Amphiaraos in Oropos und Trophonios in Lebadeia. In Totenorakeln erhielt man im Wachen oder Schlaf von den heraufbeschwornen Seelen Verstorbener Offenbarungen; sie beianden sich besonders an Stellen, wo man einen Eingang in die Unterwelt annahm, wie zu Kichyros in Epirus, Heraklea am Pontos, am Vorgebirge Tänaron und am Avernersee bei Cumä in Italien. Auch an ausländische O. wendete man sich, so an das des mit Zeus gleichgesetzten ägyptischen Ammon in der Oase Siwah. Befragt wurden die O. von einzelnen wie ganzen Staaten nicht nur um zukünftige Dinge, sondern überhaupt, wenn man menschlicher Einsicht nicht traute und sich göttlichen Rates bedürftig fühlte. Auf diese Weise haben die angesehenern O., vor allem das in Delphi, zuzeiten großen Einfluß geübt in religiösen und auch politischen Fragen. Wie weit die Priester selbst von der Wahrhaftigkeit ihrer Tätigkeit überzeugt waren, läßt sich nicht entscheiden, aber auch nicht behaupten, daß alles lediglich beabsichtigte Täuschung war. Die sprichwörtliche Dunkelheit und Zweideutigkeit der O. wird allerdings als priesterlicher Kunstgriff zu gellen haben, und daß sich Priester gelegentlich bei der Deutung der vermeintlichen göttlichen Kundgebungen und bei Abfassung der Aussprüche durch weltliche Rücksichten beeinflussen ließen, liegt nahe. Das delphische O. wurde zeitweise geradezu der Parteilichkeit für Sparta beschuldigt. Der Verfall des alten Götterglaubens führte auch den Niedergang der O. herbei; in weitester Ausdehnung erneuerten sie sich in der römischen Kaiserzeit in der ganzen römisch-griechischen Welt; fast alle bedeutendern Tempel, namentlich die zu den griechischen hinzugekommenen ägyptischen und orientalischen Götter, hatten O., oft der verschiedensten Art nebeneinander. Erst Theodosius, Ende des 4. Jahrh., machte dem öffentlichen Orakelwesen ein Ende. In Italien gab es ursprünglich nur Losorakel (s. Sortes); über die Art der Erforschung des göttlichen Willens seitens des römischen Staates s. Auspizien und Sibyllinische Sprüche. Vgl. Wiskemann, De variis oraculorum generibus (Marb. 1835); Wolff, De novissima oraculorum aetate (Berl. 1854); Döhler, Die O. (das. 1872); Hendeß, Oracula graeca (Halle 1877); Bouché-Leclercq, Histoire de la divination dans l'antiquité (Par. 1879–81, 4 Bde.).
http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.