Sprache und Sprachwissenschaft

Sprache und Sprachwissenschaft

Sprache und Sprachwissenschaft. Unter Sprache versteht man, ohne die verschiedenen Bedeutungen streng zu sondern, einesteils das Sprechvermögen, andernteils etwas Konkretes, die Ausübung dieses Vermögens und die dadurch in die Erscheinung tretenden mannigfachen, insbes. lautlichen Äußerungen mit ihrer nicht nur dem Sprechenden, sondern auch dem Angesprochenen verständlichen Bedeutsamkeit, ferner ebensowohl die Sprache eines einzelnen Menschen, die Individualsprache (z. B. die Sprache Bismarcks), als auch das Sprechen einer ganzen Sprachgenossenschaft (Familie, Ortschaft, Stamm, Volk), und weiter ebenso die Tätigkeit des Sprechens selbst, wie die auf irgendwelches Material angebrachten Schriftzeichen, die unter Umständen die Lautsprache (oder Sprache im engern Sinne des Wortes) vertreten. Die Sprache ist eine psychophysische Tätigkeit: eine physische insofern, als die Lautungen, Gebärden etc. durch dann eben als Sprachwerkzeuge wirkende Körperorgane (insbes. Muskeln) hervorgebracht werden, und eine psychische insofern, als die Lautungen etc. immer Ausdrucksmittel psychischer Zustände sind, eine »Bedeutung« haben. Das psychologische Moment ist nicht besonderes Eigentum der menschlichen Sprache, es kommt auch schon der Tiersprache, vor allem den Tierlauten zu. Die triebartig bei Mensch und Tier hervorbrechenden Affektlautungen haben sich bei den Tieren unter dem Einfluß des Zusammenlebens zu Ruf- und Locklauten entwickelt, und mannigfache Tonmodulation ist auch der Tiersprache nicht fremd. Aber das Tier verfügt jedesmal nur über eine geringe Anzahl von Lauten, die Lautung ist nicht rhythmisch abgestuft, und als willkürlich gebrauchtes Ausdrucksmittel ist seine Sprache stets nur auf ganz wenige Zwecke der Mitteilung gerichtet. Wenn man nun auch noch so stark betont, daß dem Menschen eine außerordentlich große Mannigfaltigkeit der Lautbildung eigen ist, daß seine Sprache einer unübersehbaren Masse verschiedener Zwecke dient und im Zusammenleben der Individuen auch bei dem unkultiviertesten Volksstamm einen reichen geistigen Inhalt hat, so ist doch zwischen Tier- und Menschensprache kein Art-, sondern nur ein Gradunterschied zu machen. Schon durch die zahlreichen interjektionalen Lautungen, die als integrierende Bestandteile auch heute noch beim zivilisiertesten Volk in dessen Sprache verwebt sind und die zu den primitivsten Elementen aller menschlichen Rede gehören, ist diese entwickelungsgeschichtlich mit der Tiersprache fest verbunden. Erst allmählich ist die Lautsprache der absichtlichen Mitteilung von Vorstellungen an andre Individuen dienstbar gemacht worden; ursprünglich war sie ganz vorwiegend Ausdruck (und dann auch unabsichtliche Mitteilung) nicht von Vorstellungen, sondern von Gemütsbewegungen, besonders Affekten. Darin gleicht sie der Gebärdensprache, deren Ausdrucksbewegungen man teils als mimische, teils als pantomimische bezeichnet. Von den stummen Gefühlssymptomen, welche die mimische Bewegung des Antlitzes ausmachen, z. B. wenn ein bitterer Geschmack im Munde reflektorisch gewisse Muskeln der Mundpartie in Bewegung setzt und eine Senkung der Zungenwurzel und Hebung des weichen Gaumens verursacht, unterscheidet sich die lautsprachliche Ausdrucksbewegung zunächst nur dadurch, daß bei ihr vorzugsweise solche Muskeln beteiligt sind, die Schalle mit mannigfachen Klang- und Geräuschqualitäten erzeugen. Es kommt also hier die besondere Eigenschaft der Hörbarkeit hinzu, und diese ist es, welche die Lautsprache zu einer um soviel höhern Entwickelung hat kommen lassen als die Gebärdensprache. Überall aber sind diese beiden Spracharten in lebendigem Zusammenhang miteinander geblieben, die Gebärde muß die Lautsprache nicht nur vielfach unterstützen, sondern zum Teil ersetzt sie auch geradezu Bestandteile der lautsprachlichen Äußerung, beim unkultivierten Menschen in höherm Maß als beim kultivierten. Die Sprache auf dem Papier muß freilich dieser Beihilfe entraten. Sie ist daher auch, sofern sie nicht darauf berechne: ist, in lebendige Lautsprache umgesetzt zu werden, wie z. B. ein vom Dichter niedergeschriebenes Drama, in der Regel vollständiger und weitläufiger als die gesprochene Sprache, oder sie meidet dieser eigne Ausdrucksweisen; man spricht mit einer pantomimischen Gebärde z. B. »hierauf gebe ich nicht so viel« und schreibt »hierauf gebe ich nichts«. Aber auch die Schriftsprachen zeigen heute noch vielfach im Zustand der Erstarrung solche Elemente, die sich aus einem urspünglichen Gebrauch der Lautung mit begleitender Gebärde herleiten, besonders im Gebiet der Demonstrativpronomina. Gingen also Lautäußerung und Gebärde ursprünglich Hand in Hand, so ist die Entwickelung der Lautsprache wahrscheinlich als ein Vorgang der Differenzierung zu denken, bei dem aus einer Menge verschiedenartiger, sich wechselseitig unterstützender Ausdrucksbewegungen allmählich der lautliche Ausdruck insofern als die allein übrigbleibende hervorging, als er nun zwar jene andern Hilfsmittel nicht ganz abstreifte, aber immer auch ohne sie auszukommen imstande war. Die von einzelnen Mitgliedern einer Gemeinschaft erzeugten Lautungen der Sprechorgane gewannen unter dem Einfluß des Strebens nach Mitteilung den Vorzug; die hieran sich anschließenden Assoziationen zwischen Lautung und Bedeutung befestigten sich und verbreiteten sich von ihren Entstehungszentren aus über die ganze Sprachgenossenschaft. Die so entstandene Sprache blieb aber überall fortwährender Veränderung ausgesetzt, nicht nur nach der Seite der Lautbildung hin, sondern auch nach der Bedeutung des Lautlichen. Lautungs- und Bedeutungswandel wirken in der Weise zusammen, daß sie die ursprüngliche Beziehung zwischen Lautung und Bedeutung immer mehr schwinden lassen, so daß die Lautung schließlich nur als ein äußeres Zeichen der Bedeutung aufgefaßt wird. Dabei verlieren nun viele Lautgebilde allmählich ihre ursprüngliche konkret sinnliche Bedeutung und werden Zeichen für abstrakte Begriffe. So entwickelt sich das abstrakte sprachliche Denken, das, weil es ohne den zugrunde liegenden Bedeutungswandel nicht möglich wäre, selbst erst ein besonderes Erzeugnis jener von allem Anfang an die Sprache schaffenden und sie fördernden psychophysischen Wechselwirkungen ist. Das abstrakte Denken in der Sprache bildet aber wieder die Voraussetzung für alle höhern geistigen Prozesse, die an die in der Sprache verdichteten Gesetze des gemeinsamen Denkens gebunden sind.

Die Sprache des Kindes geht hervor aus dem Zusammenwirken vererbter, in den Zentralorganen des Nervensystems begründeter Anlagen und der Einflüsse, welche die redende Umgebung auf das Kind ausüben. Seine ersten Lautungen sind ebenfalls Gefühlsäußerungen, die nicht mit der Absicht der Mitteilung hervorgebracht werden. Demnächst ahmt das Kind auch die Lautungen der Erwachsenen nach, doch nur papageienhaft, ohne Verständnis. Verstanden wird von ihm zunächst nur die hinweisende Gebärde, als eine Andeutung davon, daß mit der Hinweisung auf einen Gegenstand dieser gemeint sei. Wird von dem Erwachsenen der Gegenstand zugleich mit der Gebärde auch genannt, so assoziiert sich nun die Lautungsvorstellung mit der wahrgenommenen Gebärde. Jetzt erst erfährt das Kind, daß mit der gehörten Lautung das nämliche Ding bezeichnet werden soll wie mit der Gebärde, und es lernt dann nach und nach das Gehörte auch ohne die unterstützende Gebärde verstehen. Die Lautung und das zu ihr gehörige Ding werden immer sicherer als zusammgehörig aufgefaßt, und das Kind ahmt absichtlich die Lautung in bestimmter Bedeutung nach. Damit ist der wichtigste Teil der Arbeit der Spracherlernung getan, wenngleich das Kind nur erst einen minimalen Teil des Lautmaterials der Erwachsenen sich zu eigen gemacht hat und die Laute noch höchst unvollkommen bildet und anderseits auch die Auffassung des Bedeutungsinhalts der wenigen erlernten Lautungen noch sehr mangelhaft ist (ihm ist z. B. noch jeder Mann oder sogar jede Person »Papa«). Was jetzt noch zu lernen bleibt, ist zwar der größere, die längste Zeit in Anspruch nehmende Teil der Arbeit, aber es handelt sich jetzt nicht mehr um Erwerbung der Sprechfähigkeit, sondern nur noch um die Vervollkommnung des schon Erworbenen. Ist der Mensch nun allmählich in den Vollbesitz der Sprache gelangt, so bleibt diese ihm doch nicht durchs ganze Leben hindurch unverändert dieselbe. Nicht nur die Änderungen, die mit dem Menschen an und für sich schon in den verschiedenen Lebensaltern in leiblicher und in seelischer Beziehung vor sich gehen, sondern auch der Umstand, daß der sprachliche Verkehr, in dem der Einzelne drinsteht, mannigfach wechselt (dabei braucht man noch nicht einmal den so häufigen Fall zu berücksichtigen, daß einer nicht zeitlebens am selben Ort wohnen bleibt), bedingen ununterbrochene Verschiebungen und Neuerungen in der Individualsprache. Es ist hiermit nicht anders als mit jeder andern psychophysischen Tätigkeit des Menschen. Und ewig veränderlich ist auch die Gesamtsprache, die Sprache einer ganzen sprachlichen Verkehrsgenossenschaft. Schon darum, weil diese Sprache ja nicht eine metaphysische Substanz, ein über den Menschen und unabhängig von ihnen existierendes Wesen, sondern nichts andres als das Ergebnis der stetigen sprachlichen Wechselwirkung der Sprachgenossen ist. Die Sprachentwickelung im Ganzen der Genossenschaft, die das individuelle Leben überdauert, unterliegt bei Naturvölkern so rascher Veränderung, daß eine Sprache oft schon nach wenigen Generationen als eine ganz andre erscheint. Bei Kulturvölkern ist die Veränderung durch mancherlei Umstände verlangsamt, vor allem durch die Pflege, die man der Sprache angedeihen läßt, und die immer in höherm Maße darauf aus ist, bereits Eingebürgertes zu konservieren, als daß sie den Neuerungstendenzen der einzelnen entgegenkommt. Namentlich bildet die Schrift, in der Neuzeit zugleich der Buchdruck, ein mächtiges Bollwerk gegen sprachliche Veränderungssucht. Wenn in einem Volke Schriftgebrauch und im Zusammenhang damit Schulbildung aufgekommen sind, entstehen allmählich verschiedene Volksschichten, die sich nach dem Bildungsgrad unterscheiden. Es entwickelt sich aus der Alltagssprache eine Schriftsprache, diese stellt sich über jene, und beide Sprachformen gehen nun nebeneinander her. Die Gebildeteren des Volkes halten sich mehr zur Schriftsprache, die Ungebildeteren bleiben die Hauptträger der alten Sprachform, die nun als sogen. Dialekt erscheint. In diesem geht die sprachliche Veränderung rascher vor sich, aber doch nicht frei und ungehindert, da die verschiedenen Volksschichten im Verkehr miteinander sind und so die Sprache der Gebildeten auch nach unten hemmenden Einfluß übt (s. Dialekt).

Überall in der Welt läßt sich beobachten, wie einerseits verhältnismäßig einheitliche Mundarten und Sprachen durch stetig zunehmende Differenzierung sich zu einer Mehrheit von stärker voneinander abweichenden Sprachen entwickeln und wie anderseits stärker verschiedene Sprachen sich zu einer Einheitlichkeit ausgleichen. Es sind immer die besondern geschichtlichen Erlebnisse der Völker, die diese oder jene Wirkung hervorbringen. Das erstere geschieht, wenn der Verkehr zwischen verschiedenen Volksteilen sich lockert oder auch ganz aufgehoben wird. Das zweite, wenn ein Stamm seine Sprechweise auf Nachbarstämme überträgt, sei es auf friedlichem Wege, sei es auf dem Wege der Gewalt. Für beides bietet die Geschichte zahlreiche Belege. So hat sich z. B. auf der einen Seite die um 500 n. Chr. noch ziemlich einheitliche nordische (skandinavische) Mundart, wie wir sie durch die Runeninschriften kennen, zu einer beträchtlichen Anzahl von Mundarten (in Schweden, Norwegen, Island, Dänemark) entwickelt, und die Sprache des alten Rom hat eine Fülle von andern Sprachen in Italien und außerhalb Italiens verdrängt. Die stetig steigende Kultur hat in der geschichtlichen Zeit im ganzen mehr Sprachen durch Nivellierung vernichtet, als sie neue Sprachen durch zunehmende Differenzierung hat aufkommen lassen.

Die seit Adelung oft getane Frage, wieviele Sprachen es gibt, wird verschieden beantwortet; die Gesamtzahl der lebenden Sprachen veranschlagte z. B. Adelung selbst auf über 3000, während neuere Schätzungen zwischen 900–1500 schwanken und allerneuestens ein französischer Geograph 860 Sprachen mit etwa 5000 Dialekten herausgerechnet hat. Die Frage ist aber nicht zu beantworten. Nicht etwa deshalb, weil unsre Kenntnis der Sprachen vieler abgelegener Länder immer noch sehr lückenhaft ist, sondern deshalb, weil eine ziffernmäßige Angabe hier von vornherein ein Unding ist. Es gibt nicht nur keine begriffliche Grenze zwischen Sprache als der weitern Einheit und Dialekt als der engern, die dem objektiven Tatbestand gerecht würde, sondern es gibt auch keine Grenze zwischen Dialekt und Individualsprache. Gewiß lassen sich zwischen benachbarten Sprachen oft scharfe Grenzlinien ziehen, aber ebensooft stehen wir, namentlich wo es sich um ungezüchtete echte Volkssprache handelt, vor der Tatsache, daß zahlreiche Varietäten von einer Sprache zur andern allmählich überleiten. Es gibt dann nicht die Zeichnung mit einer trennenden Linie das richtige Bild, sondern nur etwa die mittels allmählich ineinander überfließender Farben nach Art des Nebeneinanders der Farben des Regenbogens. Es ist ganz unvermeidlich, daß bei vollkommen gleicher Sachkenntnis der eine zwei Dialekte zählt, wo der andre vier oder acht zählen würde; ein allgemein gültiger Maßstab für den Grad der Verschiedenheit, der die Annahme von zwei Sprachen oder Mundarten statt einer nötig machen würde, ist nicht vorhanden.

Verbreitung und Einteilung der Sprachen.

(Hierzu die »Sprachenkarte«, mit Textblatt: »Übersicht der Sprachstämme«)

Bei einer Übersicht über die geographische Verbreitung der (Laut-)Sprachen handelt es sich vorzugsweise darum, ihre Zusammengehörigkeit zu größern oder kleinern Gruppen, die sich als von einer gemeinsamen Ursprache herstammend ansehen lassen, zur Anschauung zu bringen. Daß eine solche klassifizierende Gruppierung ihre notwendigen Mängel hat, ergibt sich aus dem, was soeben über die Unmöglichkeit, die Sprachen der Erde zu zählen, gesagt ist. Auf beifolgender »Sprachenkarte« und der zugehörigen Übersicht sind nur die wichtigern der bis jetzt von der Linguistik ermittelten Sprachstämme und deren Unterabteilungen vollständig (letztere auch einschließlich der jetzt ausgestorbenen), von den einzelnen Sprachen sind nur die hervorragendsten ausgeführt, namentlich von den in Amerika gesprochenen. Dort ist die Sprachverschiedenheit am größten; geringer ist sie in den Weltteilen, die wenigstens teilweise von alters her von Kulturvölkern bewohnt und daher früher zur Ausbildung von Schriftsprachen gelangt sind, in Asien und Afrika, am geringsten in Europa, wo man nur 53 Sprachen zählt; die Sprachen der Eingebornen von Australien sind teilweise schon ausgestorben. Nach den bisherigen Ergebnissen der genealogischen Einteilung der Sprachen unterscheiden wir nun zehn größere Sprachstämme: 1) einsilbige Sprachen in Südostasien (indochinesischer Sprachstamm); 2) den malaio-polynesischen Sprachstamm; 3) die Drawidasprachen in Südindien; 4) den uralaltaischen Sprachstamm; 5) die Bantusprachen (südafrikanischer Sprachstamm); 6) den hamito-semitischen Sprachstamm; 7) den indogermanischen Sprachstamm; 8) den amerikanischen Sprachstamm; 9) den australischen Sprachstamm; 10) die Mon-Anamsprachen Hinterindiens. Außerdem gibt es noch eine beträchtliche Anzahl isolierter Sprachen und kleinerer Sprachstämme. Dazu gehören: in Europa das Baskische in den Pyrenäen und das jetzt ausgestorbene Etruskische (entschieden nicht indogermanisch) in Toskana; die meisten Negersprachen in Zentralafrika, so das Wolof, Bidschogo, Banyum, Haussa, Nalu, Bulanda, Baghirmi, Bari, Dinka etc., von denen nur einzelne, wie die Nuba-, Fulbe-, Mande-, Nil-, Kru-, Ewe-, Bornusprachen, sich zu besondern Gruppen vereinigen lassen oder mit den süd- oder nordafrikanischen Sprachen verwandt sind; in Südafrika die verschiedenen Sprachen der Hottentotten und Buschmänner, die sich durch das Vorhandensein zahlreicher Schnalzlaute, im Buschmännischen acht, auszeichnen, übrigens dem Aussterben nahe sind; die Sprachen des Kaukasus, unter denen man einen südkaukasischen Sprachstamm mit Georgisch, Mingrelisch und Lasisch nebst Suanisch und einen nordkaukasischen Sprachstamm mit Tscherkessisch, Awarisch, Udisch, Tschetschenzisch etc. unterscheiden kann; im Innern von Ostindien die kolarischen Sprachen, die vielleicht mit den australischen verwandt sind; das Japanische und Koreanische in Japan und Korea; das Jukagirische, Korjakische und Tschuktschische, Kamtschadalische, Aino, Giljakische, Jenissei-Ostjakische, Kottische und Aleutische in Nordasien; die Eskimosprachen in Nordasien, Amerika und Grönland; die Maforsprache auf Neuguinea und andre Papua- und Negritosprachen etc.

Ursprung der Sprache. Sprachwissenschaft.

Die Frage nach dem Ursprung der Sprache, die schon die griechischen Philosophen beschäftigte, und die später mit unbegründetem Hinweis auf die Bibel im Sinn eines übernatürlichen Ursprungs beantwortet wurde, hat sich im 19. Jahrh. in eine Frage nach der Entstehung der einzelnen von der Sprachwissenschaft erschließbaren vorhistorischen Ursprachen, wie der indogermanischen oder der hamitisch-semitischen, verwandelt. Freilich sind diese Ursprachen, wenn wir sie uns auch 10 oder 20 Jahrtausende v. Chr. gesprochen denken, und wenn es. auch gelänge, für einige von ihnen wiederum eine sie verbindende, zeitlich noch weiter zurückliegende Ureinheit aufzufinden, nicht bloß ein Ausgangs-, sondern stets auch wiederum ein Endpunkt einer Entwickelung, deren Dauer und wirkende Faktoren wohl für alle Zeit der Nachweisung entzogen bleiben. Die historische Sprachforschung kommt unter keinen Umständen über eine größere Reihe von Ursprachen nebeneinander hinaus, und sie ist außerstande, nur aus eignen Mitteln zu einer gesicherten Anschauung vom Ursprung aller Sprachen durchzudringen. Was nun die sogen. Sprachphilosophie bis vor kurzem zur Lösung der Frage beigebracht hat, davon ist weitaus das meiste gänzlich verfehlt. Außer der bereits genannten Theorie vom göttlichen Ursprung (Wundertheorie) hat man eine Hypothese, nach der die Sprache von den Menschen geflissentlich oder durch Zufall erfunden worden ist (Erfindungstheorie), eine, wonach die Anregung zur Sprache von Schall- und sonstigen Sinneseindrücken kam, die man nachahmte (Nachahmungstheorie), und eine, wonach subjektive Natur- und Gefühlslaute, die der Mensch zuerst zufällig ausstieß, mit den Objekten, deren Wahrnehmung sie begleiteten, assoziiert wurden (Naturlauttheorie). Dabei fehlt es nicht an Kombinationen dieser Theorien miteinander. In neuester Zeit legt man nun, sofern man der Frage überhaupt noch näher zu treten geneigt ist, naturgemäß den Nachdruck erstens auf ganz allmähliche Herausbildung der Sprache, so daß kein bestimmter Punkt in dieser Entwickelung angegeben werden kann, wo der Name Sprache, im Gegensatz zu dem unmittelbar Vorausgehenden, zuerst anwendbar und angemessen erscheinen könnte, und zweitens nimmt man zur Grundlage der Betrachtung nur diejenigen Eigenschaften des menschlichen Bewußtseins und nur diejenigen Änderungen und Neuerungen der Sprache, die sich auf den unsrer genauen Beobachtung zugänglichen Stufen darbieten. Und es läßt sich namentlich im Anschluß an W. Wundt und in Ergänzung des oben im Eingang Bemerkten etwa folgendes als wahrscheinlich bezeichnen. Als eine Ausdrucksbewegung ist das menschliche Sprechen aus der Gesamtheit der Ausdrucksbewegungen hervorgegangen, die das animalische Leben überhaupt kennzeichnen. Eine wirkliche Kluft zwischen Tier und Mensch ist in Absicht auf die Sprache nicht vorhanden, die Sprache ist vielmehr im Tier in mannigfachen Stufen verbreitet. Es fragt sich also nur, wie die gerade dem Menschen eignen und seiner Bewußtseinsstufe adäquaten Ausdrucksbewegungen zu Sprachlautungen und dann weiter allmählich zu abstrakten Symbolen der Gedankeninhalte geworden sind. Das Bedeutsame kann an der ursprünglichen Sprachäußerung nicht der Laut selbst gewesen sein, sondern die Bewegung der Artikulationsorgane, die nur eine Spezies der ein Gefühl (einen Affekt) oder eine Vorstellung ausdrückenden mimischen Bewegungen bildet. Die Sprachlautungen waren also erst eine Folgeerscheinung der Lautgebärden, und erst allmählich, unter dem Einfluß dauernden Zusammenlebens der Menschen, haben sich die Sprachlautungen verselbständigt, indem die sie unterstützenden mimischen und pantomimischen Gebärden mehr und mehr überflüssig wurden. Als ein Ergebnis der bei der Lautbildung obwaltenden psychophysischen Bedingungen war aber die Sprachlautung kein mechanischer Reflex, sondern eben nur die einfachste psychophysische Reaktion in dem Bereich der Bewegungsvorgänge: eine Trieb- oder eindeutig bestimmte Willenshandlung. Und von Anfang zugleich und wesentlich psychisch motiviert, wird die ganze Entwickelung, die wir Sprache nennen, zu einer Kette von Prozessen, in denen sich die geistige Entwickelung des Menschen, vor allem die seiner Vorstellungen und Begriffe, nicht nur in unmittelbarer Treue widerspiegelt, sondern von der sie zugleich einen wesentlichen Teil bildet.

Die Sprachwissenschaft oder Linguistik ist als Wissenschaft erst ein Kind des 19. Jahrh. Denn die Grammatik der Griechen und Römer (vgl. Grammatik) und die an und für sich höchst bewundernswerten grammatischen Forschungen der Inder sowie diejenigen der Araber waren schon durch ihre Beschränkung auf eine oder höchstens zwei Sprachen ungeeignet, zu einer Einsicht in das Wesen und die Verwandtschaftsverhältnisse der Sprachen zu führen, und vom Mittelalter ab bis in die Neuzeit herein bildete besonders das Vorurteil, als sei das Hebräische die Ursprache der Menschheit, ein Hemmnis für den Fortschritt der Sprachforschung. Erst die Entdeckung der alten Sprache Indiens, des Sanskrits, gegen Ende des 18. Jahrh. und die Aufdeckung des Zusammenhanges, in dem es mit den meisten Kultursprachen Europas steht, gaben den Anstoß zu einer ausgedehntern Sprachvergleichung und damit zur Begründung einer wirklichen Wissenschaft von der Sprache. Man erkannte das Indische, Griechische und andre Sprachen Europas als Glieder derselben Familie, und die von selbst sich ergebende Folgerung, daß alle diese Sprachen aus einer gemeinsamen vorhistorischen Ursprache erwachsen seien, führte dazu, den entwickelungsgeschichtlichen Standpunkt einzunehmen und nicht mehr zu verlassen. Durch Franz Bopp, Jak. Grimm u. a. wurde der indogermanische Sprachstamm nachgewiesen, W. v. Humboldts und Potts weitgreifende Forschungen wandten sich bald auch andern Sprachfamilien zu, und der erstere gab zugleich wichtige Anregungen zu sprachphilosophischer Betrachtung. Freilich läßt das Verfahren aller dieser Gelehrten noch in vielen Beziehungen den richtigen Einblick in das Wesen und die allgemeinen Lebensbedingungen der Sprache vermissen. Sprachgeschichtliche Einzelforschung und Sprachphilosophie kamen nicht in das richtige Verhältnis zueinander. Dies geschah erst von den 70er Jahren des 19. Jahrh. an, als einerseits die Indogermanisten, unter ihnen besonders die sogen. Junggrammatiker, wie H. Paul, sich den Prinzipienfragen der Sprachwissenschaft zuwandten und anderseits auch von philosophischer Seite her die Sprachpsychologie ernstere Pflege erfuhr, wofür vor allem W. Wundt zu nennen ist.

Vgl. Benfey, Geschichte der Sprachwissenschaft und orientalischen Philologie in Deutschland (Münch. 1869); Whitney, Die Sprachwissenschaft (bearbeitet von Jolly, das. 1874) und Leben und Wachstum der Sprache (übersetzt von Leskien, Leipz. 1876); Fr. Müller, Grundriß der Sprachwissenschaft (Wien 1876–88, 4 Bde.); Brugmann, Zum heutigen Stand der Sprachwissenschaft (Straßb. 1885); Schrader, Sprachvergleichung und Urgeschichte (3. Aufl., Jena 1907); G. v. d. Gabelentz, Die Sprachwissenschaft (2. Aufl., Leipz. 1901); Delbrück, Einleitung in das Studium der indogermanischen Sprachen (4. Aufl., das. 1904) und Grundfragen der Sprachforschung (Straßb. 1901); Paul, Prinzipien der Sprachgeschichte (3. Aufl., Halle 1898); Wundt, Völkerpsychologie, Bd. 1: Die Sprache (2. Aufl., Leipz. 1904, 2 Tle.); Sütterlin, Das Wesen der sprachlichen Gebilde (Heidelb. 1902); O. Dittrich, Grundzüge der Sprachpsychologie (Halle 1904, Bd. 1).


http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.

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