- Mitternachtssonne
Mitternachtssonne, das Verweilen der Sonne oberhalb des Horizonts auch bei ihrer untern Kulmination, zwölf Stunden nach ihrem höchsten, mittägigen Stande. Die Sonne scheint eine kurze Zeit zu ruhen, ehe sie sich wieder erhebt, und erzeugt eigentümliche Beleuchtungseffekte, namentlich sehr warme Schatten und ein besonderes Zwielicht. Die M. steht für Orte verschiedener Breite auch verschieden hoch über dem Horizont, und die Dauer ihrer Sichtbarkeit nimmt mit der Annäherung nach dem Pole zu; sie beträgt für Hammerfest, Europas nördlichste Stadt, und für das Nordkap fast drei Monate (von Mitte Mai bis Ende Juli). Die Erscheinung würde auf die Regionen innerhalb der Polarkreise beschränkt sein, wenn die Erde nicht von einer Atmosphäre umgeben wäre; infolge der atmosphärischen Strahlenbrechung kann sie aber auch noch ein Stück außerhalb der Polarkreise beobachtet werden. Sie tritt ein, wenn der Abstand der Sonne vom Himmelspol (90° weniger der Deklination) kleiner ist als die geographische Breite des Beobachtungsortes. Solange diese Bedingung erfüllt ist, herrscht immerwährend Tag, dessen Dauer um so größer ist, je höher die geographische Breite des Ortes ist. Mit zunehmender Breite nimmt aber auch der Unterschied zwischen dem höchsten und niedrigsten Sonnenstand im Laufe von 24 Stunden ab; der Kreis, den die Sonne (wenn man von der Änderung der Deklination absieht) in dieser Zeit beschreibt, nimmt mehr und mehr eine horizontale Lage an, je mehr man sich dem Pole nähert. – Schon Homer hatte davon Kunde, daß in höhern Breiten die Sommertage nur durch eine kurze Dämmerung getrennt sind, Pytheas ließ sich von Thule aus die Stelle des Horizonts zeigen, wo die Sonne für eine kurze Zeit »Ruhe halte«, um sogleich wieder auszugehen, und Prokopios spricht schon seine Sehnsucht aus, jene Insel Thule, unter der er Skandinavien verstand, wo die Sonne im Sommer 40 Tage lang auch um Mitternacht über dem Horizonte bleibt und im Winter 40 Tage lang völlig verschwindet, dann aber mit einem großen Feste wieder begrüßt wird, zu besuchen. Es mag also eine Gegend unter 67°23' nördl. Br. (»Halogoland«) gewesen sein, von der ihm diese Nachrichten zugekommen waren. In der Neuzeit und seit dem Bekanntwerden von Tegnérs »Frithjofsage« und namentlich nach dem Erscheinen von Du Chaillus Buch: »Im Land der M.« hat sich dieser Wunsch des alten Historikers zu einer allgemeinen Völkersehnsucht nach der M. verdichtet, der regelmäßige Dampferfahrten nach Hammerfest und dem Nordkap in den Sommermonaten Rechnung tragen. Auch auf den Lofoten und auf dem Berg Awasaksa (s. d.), 7 Meilen nördlich von Haparanda, kann man bereits die Erscheinung sehen. Der am leichtesten in Skandinavien erreichbare Punkt ist Gellivara, das man mit der Bahn von Stockholm in wenigen Tagen erreicht, woselbst ein zwei Stunden entfernter, mit Gasthaus versehener Berg, der Gellivara-Dunder, Gelegenheit bietet, die M. vom 5. Juni bis 10. Juli zu beobachten.
http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.