- Mäuseturm
Mäuseturm. An zahlreiche, meist im Wasser stehende Türme knüpfen sich in verschiedenen europäischen Ländern Lokalsagen, nach denen in Zeiten der Hungersnot hartherzige Könige (Popiel in Polen, Snio in Dänemark), Bischöfe (Hatto in Bingen) und sonstige Gewalthaber, von Mäusen (Vertreter der Seelen verhungerter Menschen?) verfolgt, sich auf einen hohen, vom Wasser isolierten Turm geflüchtet hätten, aber auch dort erreicht und gefressen worden seien. Die jetzt bekannteste Form der Sage vom Bischof Hatto (s. d.) im M. bei Bingen (s. d.) stammt erst aus dem 14. Jahrh., während sie zwei Jahrhunderte früher bereits vom König Popiel in Polen erzählt wurde. In einer der ältesten, von Giraldus Cambrensis (gest. 1220) erzählten Version muß sich der von unzähligen Fröschen verfolgte Mann auf einen kahlen Baum flüchten, wo er verhungert, und daraus schließt Liebrecht (»Zur Volkskunde«, Heilbr. 1879), daß diese weitverbreiteten Sagen vielleicht alle von einem alten, schon von Ammianus Marcellinus bei den Burgundern und in der Ynglinga-Saga von den Skandinaviern bezeugten Volksgebrauch, Hungersnöte durch Aufhängen der Vornehmsten an einem kahlen Baum (Galgen) als Opfer zu beschwichtigen, entstammen möchten. Eine andre Deutung, worin die Mäuse als rächende Boten der Gottheit aufgefaßt werden, hat Grohmann (»Apollo Smintheus«, Prag 1862) versucht. Die Sprachwissenschaft erklärt den M. (bei Bingen) als Mautturm, d. h. Zollstelle zur Erhebung des Schiffszolles. Vgl. Beheim-Schwarzbach, Die Mäuseturmsage von Popiel und Hatto, kritisch beleuchtet (Posen 1888).
http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.